Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
streiten müssen. Schließlich war er der einzige Freund, den er hier in Aus-Wisch hatte. Aber Vater war Vater, und Bruno fand es nicht richtig, wenn jemand etwas Schlechtes über ihn sagte.
Die beiden Jungen schwiegen eine ganze Weile, da keiner etwas sagen wollte, was er vielleicht bereute.
»Du ahnst nicht, wie es hier ist«, sagte Schmuel schließlich leise, seine Worte drangen kaum zu Bruno.
»Du hast keine Schwestern, oder?«, fragte Bruno schnell und tat, als hätte er Schmuels Bemerkung nicht gehört, denn sonst hätte er antworten müssen.
»Nein«, sagte Schmuel und schüttelte den Kopf.
»Da hast du Glück«, sagte Bruno. »Gretel ist erst zwölf und bildet sich ein, sie weiß alles, dabei ist sie in Wirklichkeit ein hoffnungsloser Fall. Sie sitzt da und schaut aus dem Fenster, und sobald sie Oberleutnant Kotler kommen sieht, rennt sie in den Flur runter und tut so, als wäre sie schon die ganze Zeit dort gewesen. Vor ein paar Tagen habe ich sie dabei erwischt, und als er hereinkam, schreckte sie zusammen und sagte: Ach, Oberleutnant Kotler, ich wusste gar nicht, dass Sie hier sind , dabei weiß ich genau, dass sie auf ihn gewartet hat.«
Bruno hatte Schmuel nicht angesehen, als er das alles sagte, aber als er sich ihm jetzt wieder zuwandte, fiel ihm auf, dass sein Freund noch blasser war als sonst.
»Was hast du?«, fragte er. »Du siehst aus, als ob dir gleich übel wird.«
»Ich will nicht über ihn reden«, sagte Schmuel.
»Über wen?«, fragte Bruno.
»Oberleutnant Kotler. Er macht mir Angst.«
»Mir macht er auch ein bisschen Angst«, gab Bruno zu. »Er ist ein brutaler Kerl. Und er riecht komisch. Von dem vielen Kölnischwasser, das er aufträgt.« Plötzlich fing Schmuel an leicht zu zittern, und Bruno sah sich um, als könnte er die Kälte eher sehen als spüren. »Was ist los?«, fragte er. »So kalt ist es doch gar nicht. Du hättest einen Pullover mitnehmen sollen, weißt du. Gegen Abend wird es jetzt immer kühler.«
Später am Abend stellte Bruno enttäuscht fest, dass Oberleutnant Kotler mit der ganzen Familie zu Abend aß. Pavel trug wie gewohnt seine weiße Jacke und servierte ihnen das Essen.
Bruno beobachtete, wie Pavel um den Tisch ging, und merkte, dass der alte Mann immer, wenn er ihn ansah, traurig wirkte. Er fragte sich, ob Pavel die weiße Jacke, die er jetzt als Kellner trug, früher als Arzt angehabt hatte. Als er die Teller hereingebracht und vor jedem am Tisch einen hingestellt hatte und während sie aßen und sich unterhielten, trat er an die Wand zurück und rührte sich nicht, schaute weder geradeaus noch sonst wohin. Es war, als wäre er im Stehen und mit offenen Augen eingeschlafen.
Sobald jemand etwas brauchte, kam Pavel und brachte es sofort, doch je länger Bruno ihn beobachtete, umso sicherer war er, dass irgendein Unheil in der Luft lag. Pavel schien von Woche zu Woche kleiner zu werden, sofern das überhaupt möglich war, und die Farbe, die in seinen Wangen hätte sein sollen, war fast gänzlich gewichen. Seine Augen schienen in Tränen zu schwimmen, und Bruno befürchtete, ein einziges Blinzeln könnte einen Sturzbach auslösen.
Als Pavel mit den Tellern hereinkam, fiel Bruno sofort auf, dass seine Hände unter dem Gewicht leicht zitterten. Und als er an seinen gewohnten Platz zurücktrat, schien er zu schwanken und musste eine Hand an die Wand pressen, um festen Halt zu finden. Mutter musste ihn zweimal um einen zweiten Teller Suppe bitten, bevor er sie hörte, und als die Weinflasche leer war, öffnete er nicht die nächste, um Vater rechtzeitig nachschenken zu können.
»Bei Herrn Liszt dürfen wir keine Gedichte oder Theaterstücke lesen«, beklagte sich Bruno während des Hauptgangs. Da sie einen Gast hatten, war die Familie feierlich gekleidet – Vater in seiner Uniform, Mutter in einem grünen Kleid, das ihre Augen zur Geltung brachte, Gretel und Bruno in den Sachen, die sie in Berlin zum Kirchgang trugen. »Ich habe ihn gefragt, ob er nicht an einem Tag in der Woche eine Ausnahme machen könnte, aber er meinte nein, nicht solange er für unsere Erziehung zuständig ist.«
»Ich bin sicher, er hat seine Gründe«, sagte Vater und machte sich über ein Stück Lammkeule her.
»Er will immer nur, dass wir Geschichte und Erdkunde lernen«, sagte Bruno. »Und langsam hasse ich Geschichte und Erdkunde.«
»Sag bitte nicht hassen , Bruno«, ermahnte ihn Mutter.
»Warum hasst du Geschichte?«, wollte Vater wissen, legte seine Gabel kurz ab und
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