Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
meistens passen wir nicht ganz hinein.
Diese all-inclusive Version des Lebens bringt ihre eigene all-inclusive Moral mit sich. Auf dem Flug hierher saß ich neben einer zweiundsechzigjährigen Frau. Sie flog zum ersten Mal in ihrem Leben. Wirklich wahr. Und das erste Mal, dass sie in ein Flugzeug steigt, fliegt sie zur Disneyworld! Sie hatte diesen nüchternen, scheppernden Akzent der Leute aus upstate – New York. »Mein Sohn«, sagte sie, während ich versuchte, mein Buch zu lesen, »also der glaubt wirklich an die Familie. Neulich Abend sagte ich zu ihm und meiner Schwiegertochter, dass ich die Kinder mal einen Abend nehmen würde, damit sie zusammen essen gehen können. Und da sagte er: › Nein, das sind die Ferien für die Kinder. ‹ Und meine Schwiegertochter sagte: › Na ja, meine Ferien sind das auch. ‹ Und darauf sagte mein Sohn: › Nein, Schatz, unsere Ferien kommen, wenn die Kinder erwachsen sind. ‹ « Ich wollte ihren Sohn im Flugzeug ausfindig machen und sagen: › Hier, nimm ruhig mal unseren Hell Boy für ein paar Stunden, und dann wollen wir mal sehen, ob du immer noch dein Leben und das deiner Frau opfern willst. ‹ Er ist die Art von Arschloch, bei der ich mich als Vater als totaler Versager fühle, denn manchmal ist das Einzige, was mir hilft, den Tag oder die Nacht mit Walker zu überstehen, die Aussicht, dass ich vielleicht ein paar Stunden ohne ihn haben werde, um zu lesen, Fahrrad zu fahren oder etwas zu kochen, dessen hauptsächliche Zutat nicht Pablum-Pulver ist. Gestern Abend habe ich mich, nachdem er wegdriftete, ins Wohnzimmer unserer Suite begeben, um zu lesen, aber alles, was ich tun konnte, war auf die Piepser, das Herumwälzen und andere Anzeichen davon zu lauschen, dass Walker wieder aufwachte. Ich habe nicht die Selbstlosigkeit des Sohns der zweiundsechzigjährigen Frau, und ganz gewiss habe ich nicht seine Engstirnigkeit. Die Welt tadelt mich wegen meiner Unfähigkeit, Walkers Schicksal und damit auch mein eigenes zu akzeptieren, tadelt mich wegen meiner Eitelkeit und Faulheit.
Und doch ist Walker auch das Gegenmittel zu dieser Selbstanklage. Heute passierte es wieder, als wir durch den »Plaza of the Nations« oder den »Congress of the Universe« von Disneyworld liefen, was auch immer zum Teufel es nun war – ein flaches, rätselhaftes Areal, das mit einem Wald voller Fahnenmasten aller Herren Länder bestückt war. Walker drehte durch, schrie und schlug sich auf die Ohren (er ist kein großer Fan von Floridas Luftbefeuchtungswetter), und ich redete ihm gut zu, murmelte meine monotone Beschwörungsformel, um zu sehen, ob ich ihn ablenken konnte, schob die Karre mit den Hüften und hielt seine Hände über seinem Kopf fest, damit er sich nicht weiter schlagen konnte. Ich war seit drei Stunden mit ihm zusammen, nachdem er früh aufgewacht war, und ich ihn zum Spazieren mit nach draußen genommen hatte, damit Johanna schlafen konnte. (Hayley schläft mit ihrer Tante Anne im Nebenzimmer.) Ich war fast am Ende meiner Kräfte. Er hatte seit einer Stunde ohne Unterbrechung geschrien, und unter der gnadenlosen feuchtheißen Sonne Floridas hatten sich diese Schreie in meinem Kopf bis zu dem Punkt ausgeweitet, dass der menschliche Schmerz, die Verlorenheit und existenzielle Isolation, die sie zum Ausdruck brachten, das Einzige waren, was ich hören, denken, ja sogar sehen konnte: Das weiße Band seines Lärms wurde zu einer Art aurikularem Glaukom und verschloss all meine übrigen Sinne. Ich dachte: »Weißt du, mein Junge, es gibt Zeiten, da hasse ich dich richtig« – was ganz gewiss nicht die Einstellung des Sohns der erstmalig Fliegenden ist, aber zumindest war es in diesem Augenblick die Wahrheit, und Walker zwang mich, ja gestattete mir auch, es zuzugeben. Er ist das Gegenmittel zu jeglichem falschen Bewusstsein. Er wird mich immer daran erinnern, wo wir wirklich stehen.
Und irgendwie – vielleicht wegen des intensiven Lichts seiner Hartnäckigkeit oder weil wir einen weiteren Zusammenbruch, eine weitere Begegnung mit dem Chaos überstanden hatten – bildete sich um uns ein Kraftfeld der Widerstandsfähigkeit, und allmählich, unter Tränen erstickten Schluckaufs und keuchenden Atemzügen und Seufzern am Schluss, hörte er auf zu weinen, lehnte sich zurück und ließ sich von mir schieben, und wir hatten nur noch die Kraft dafür, die Einzelheiten der Welt um uns herum in uns aufzunehmen.
Ein weißer Bungalow am Rande der Stadt – da lebt mein Sohn jetzt.
Wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher