Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
nicht so eine Wahnsinnswahlmöglichkeit sein: Es müsste vor allem so aussehen und sich so anfühlen.
»Sie müssen Walker seine Freiheit geben«, sagte Le Cardinal. »Und wenn er das Zeichen lernt, würde ich mich sehr freuen, wenn Sie mich das wissen ließen. Ich würde mich sehr freuen. Ich gebe Ihnen meine E-mail-Adresse, damit Sie mich informieren können.«
Ich versuche seit jenem Tag, das ist jetzt mehr als ein Jahr her, Walker das Zeichen für »Ja« beizubringen. Manchmal denke ich sogar, er hat es fast kapiert.
Ich werde mich noch lange daran erinnern, wie wir in Gilles Le Cardinals Haus in Compiègne zusammen saßen und redeten und den schlichten, aber köstlichen Bohneneintopf aßen, den seine Frau Dominique liebenswerter Weise für uns zubereitet hatte. Es war, als säßen wir in einem geheimen Clubhaus und reichten eine Schatzkarte herum, von der bislang sonst niemand etwas wusste. Seine Ideen waren an sich schon außergewöhnlich. Dass er dabei von Menschen wie Walker inspiriert worden war, machte sie unvergesslich, sogar »revolutionär. Weil es darum geht, wie unsere Schwächen fruchtbar und ertragreich werden können. Besonders für behinderte Menschen, aber auch für andere. Und das war etwas, das ich von behinderten Menschen lernen konnte, wenn sie sagten, du musst nicht verstecken, was an dir nicht perfekt ist.
Und diese Erkenntnis hat mich verändert«, sagte Le Cardinal nach einer Pause. »Denn in einer Welt des Konkurrenzprinzips muss man verstecken, was schwach oder falsch ist. Jemand wird versuchen, einen zu schlagen, wenn er eine Schwäche entdeckt, und diese Schwäche auszunutzen. Wenn zwei Spieler in verschiedenen Mannschaften spielen, werden sie versuchen, sich gegenseitig zu besiegen. Und das ist genau, wo die Behinderten abweichen. Sie respektieren unsere gegenseitigen Schwächen.« Man wird durch seine Bedürftigkeit kenntlich. Man muss sich nicht verstellen.
Ein anderer von Le Cardinals Helden, Jacques de Bourbon-Busset, der französische Diplomat und Präsident der Académie française, der auf die Politik verzichtete, um Schriftsteller zu werden, sagte es mit den berühmten Worten: »Der Feind der Liebe ist das Selbstwertgefühl.« De Bourbon-Busset war ein Freund von Charles de Gaulle, ebenso wie Georges Vanier, Jean Vaniers Vater. Beide Männer kannten De Gaulles behinderte Tochter Anne, die mit dem Down-Syndrom geboren worden war. De Gaulle war für seine Zurückhaltung berühmt, außer Anne gegenüber. Sie starb 1948 im Alter von zwanzig Jahren. Nach ihrem Begräbnis tröstete der Präsident seine Frau mit den Worten: » Maintenant, elle est comme les autres« – jetzt ist sie wie alle anderen. De Gaulle hatte danach immer ein Bild von Anne dabei, ganz gleich, wohin er ging: Er behauptete auch, die Kugel, die bei einem erfolglosen Attentatsversuch 1962 auf ihn abgefeuert wurde, sei im Fotorahmen steckengeblieben, der an jenem Tag zufällig im Fonds seines Wagen auf der Ablage gestanden hatte. Zweiundzwanzig Jahre später wurde de Gaulle neben seiner Tochter beerdigt – ein Detail, das ich erschütternd traurig finde.
Obwohl traurig nicht das richtige Wort ist oder nur unzureichend. Es machte zumindest sprachlos: der Gedanke an seine lange unerwiderte Sehnsucht, sie zu erreichen, die schließlich und unvermeidlich erfüllt worden war; die ausgemergelte, sparsame Form unserer menschlichen Einsamkeit und Sehnsucht, die von seinem einfältigen Kind klar zum Ausdruck gebracht worden war.
All das wurde an mich weitergegeben, über Gilles Le Cardinal, über Jean Vanier, von der Quelle Walkers.
Dann können Sie mir vielleicht auch vergeben, wenn ich an manchen Tagen denke, dass Walker einen Zweck in unserem evolutionären Projekt erfüllt, dass er mehr ist als bloß ein misslungener Versuch der Mutation und Variation. Wenn ich denke, wahrscheinlich völlig umsonst, dass er, wenn sein Beispiel wahrgenommen, kopiert und »ausgewählt« wird, ein (ganz kleiner) Schritt zur Evolution eines breiteren und widerstandsfähigeren ethischen Bewusstseins bei einigen Mitgliedern der menschlichen Spezies sein könnte. Der Zweck von geistig behinderten Menschen wie Walker könnte dann sein, uns von der tumben Leere des »Survival of the Fittest« zu befreien.
5 Es gab sogar Pärchen bei L’Arche, nicht nur unter den jungen Assistenten, die oft noch nach der Arbeit eines langen Tages zum Tanzen in die Stadt gingen, sondern auch unter den Bewohnern. Einige waren sogar verheiratet. In
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