Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Weihnachtsbaum, ohne Umschweife, wie es seine Art ist, und musterte den Weihnachtsschmuck. In diesem Haus ewigen Schweigens wurde er ganz allein von diesem Leuchten angezogen. Ich habe das nicht vergessen können.
Wir gingen dann schnell. Er liebt den Schnee, draußen zu sein, die frische Luft an seinen Ohren und seinem Kopf. Alles, was er mag, ist mir wirklich sehr wichtig. Es fühlt sich an, als hätten wir etwas geleistet.
Als Hayley vierzehn wurde, begann ich, mit ihr ins Ballett zu gehen. Seit ihrem dritten Lebensjahr hatte sie selbst getanzt, und ich kenne keinen schöneren Grund, um abends auszugehen: Ich trage eine Krawatte, und sie trägt ein Kleid, und sie sagt mir, welche der Schritte schwierig sind und welche nicht, und wir diskutieren darüber, was der Tanz bedeuten soll und wie die Bewegung des Körpers den Geist dazu bringen kann, bestimmte Dinge zu empfinden. An diesen Abenden mit meiner anmutigen Tochter, auf unseren Plätzen in der Nähe der Bühne, bin ich dankbar, dass mein Leben von Glück und Anmut berührt worden ist.
Eines Abends besuchten wir eine Vorstellung des National Ballet of Canada, das Glass Pieces aufführte, nach einer Choreographie von Jerome Robbins und zur betörenden Instrumentalmusik von Philip Glass. Reihe um Reihe von Tänzern eilte im immergleichen Abstand voneinander und in identischem Rhythmus zu Mr. Glass’ gleichmäßigem Takt über die Bühne. Gelegentlich löste sich ein Paar daraus, um einen Pas de Deux zu tanzen, nur um augenblicklich wieder in Reihe und Rhythmus zurückgesogen zu werden.
Ein Ballett über das Leben in einer Großstadt, in anderen Worten, wo eine Armee von Menschen dieselben Dinge an denselben unpersönlichen Orten zum selben Rhythmus tut, außer wenn sie sich von der Masse lösen, und doch ganz schnell wieder zur Konformität an ihrem Platz zurückkehren, wie wir alle es müssen. Ein Kunstwerk erlaubt einem, die scharfen Umrisse der eigenen Existenz zu sehen, selbst wenn man tief in seinem eigenen blinden Leben voller Wiederholungen steckt. Eine großzügige, hoffnungsvolle Geste, die Gabe der Perspektive. Es trieb mir dicke Tränen in die Augen.
Auch Walker bringt die Leute zum Weinen. Es kann jederzeit passieren und erwischt irgendwann beinahe jeden, der ihn kennen gelernt hat. Aber es sind keine Tränen des Verlusts oder Mitleids. Ich bin zum Schluss gekommen, dass es zumeist Tränen der Dankbarkeit sind.
Die Behinderten, besonders die Schwerbehinderten und geistig Eingeschränkten, erinnern uns daran, wie dunkel ein Leben sein kann – jedes Leben, nicht bloß das der Behinderten. Aus der Dunkelheit geboren, um sofort auf eine andere Dunkelheit zuzusteuern, und dazwischen nur ein Lidschlag Licht: Das war schließlich Samuel Becketts Beschreibung der menschlichen Reise. Die meisten von Becketts Figuren haben keine Beine oder sind eingesperrt oder haben keinen Grund zur Hoffnung – behindert.
Wenn Walker also etwas tut, das nahelegt, dass es neben Schmerz und Isolation noch etwas anderes in seinem Leben gibt, dann wirkt das ganz besonders mutig. Für einen Jungen wie Walker könnte ein Schmuck an einem Weihnachtsbaum die Bundeslade sein: Er glitzert und erregt seine Aufmerksamkeit, und der Funke von Sorgfalt, Liebe zum Detail und Vorstellungskraft, der in seine Herstellung fiel, wird auf mich übertragen oder auf jeden anderen, der sich die Zeit nimmt, den Schmuck zu betrachten, und das alles wegen Walker. Wenn ich lange genug hinschaue und still sitzen bleibe, um darüber nachzudenken, wenn ich genug Mut entwickle, um nicht gleich zu einer »produktiveren« oder ablenkenden Tätigkeit weiterzueilen, kommt die Idee, einen Schmuckgegenstand in einen Baum zu hängen – ein Erinnerungsgegenstand an einem Ast, ein altes heidnisches Ritual – wieder neu in den Blick. Walker ist eine Linse – ich muss zugeben, eine mit einem ungewöhnlichen Schliff – durch die man die Welt schärfer in den Blick bekommen kann. Walker bringt mich dazu, dass ich diesen Schmuck als das sehen kann, was er ist – noch besser, als das, was er sein könnte. Guck mal, Papa , sagt er, schau mal, was du übersehen hast. Du musst bloß etwas langsamer werden. Ich zeige dir, wie du das tun musst.
Wenn mein Sohn den Versuch macht, sich nicht dem Schmerz zu unterwerfen, und plötzlich erleben muss, dass er doch stärker ist, wenn er voller Kummer über seine Niederlage ist und eine noch tiefere, schwerere Woge der Tränen aus ihm hochsteigt – dann muss ich auch
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