Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
nicht dort bin, sehe ich ihn vor meinem geistigen Auge. Seit er vor drei Jahren dorthin gezogen ist, denke ich immerfort daran.
Ein weißer Bungalow im Farmstil. Breiter als lang. Eine Rampe, die zur Tür führt. Immer mindestens zwei Wagen in der Auffahrt. Sandkasten und Spielzeug für draußen hinterm Haus. Eine Shopping-Mall an der Ecke, das Gemeindezentrum auf der anderen Seite der Kreuzung. Die Namen der Kinder sind ans Glas der Terrassentür gemalt. Diagramme und Krankenblätter in der Küche. Keine Teppiche (sie blockieren die Rollstühle und Gehhilfen). Ein geschäftiges Haus.
Es ist erstklassig, was Heime für betreutes Wohnen anbelangt: gut organisiert, mit reichlich Personal (die vierundzwanzig-Stunden-Betreuung, die Walker benötigt, selbst wenn er schläft), zuverlässig. Sauber – Sauberkeit ist wichtig. Er lebt dort mit sieben anderen behinderten Kindern.
Ich kenne sein Schlafzimmer auswendig: Blaugrüne Wände, bräuchte noch ein weiteres Fenster. Aber hübsch. Helle Holzkommode. An den Wänden Fußball-Sticker. NASCAR -Tagesdecken! Drei Jungen teilen sich das Zimmer: Marcus (taub, geistig behindert, ängstlich, aber lebhaft), Jossuf (groß, dünn, geistig behindert, voll zersetzender knochiger Kraft, lieb und still – er schüttelt mir immer die Hand) und Walker, der am schwersten geistig Behinderte von allen.
Ein Bild von Hayley an der Wand. Ein Bild von Olga. Ein Bild von seiner Mama. Ein Bild von mir.
Der Schrank, geradezu militärisch in seiner Aufgeräumtheit. Beschriftete Fächer: HEMDEN , HOSEN , UNTERHOSEN , ARMSCHIENEN . Das Bild von einem Schneemann und einem Paar Boxhandschuhe, auf lila Papier nachgemalt. Ein Junge, der sich auf die eigenen Ohren haut, in ein Bild verwandelt. Er war immer schon so. Ein Boxer, ein harter Kerl: Er ist vielleicht klein, aber er ist kräftig und hat eine endlose Fähigkeit, Schmerz auszuhalten. Bei seiner Baby-Party – die direkt nach seiner Geburt stattfand, weil er fünf Wochen zu früh geboren worden war – schenkte uns ein Freund einen Druck von George Stubbs von einer berühmten kleinen Bulldogge, Billy Martin: Ein Kampfhund. Wie passend sich manche Geschenke doch bisweilen erweisen.
Neulich nachmittags fuhr ich nach der Schule dorthin, um ihn für ein paar Tage nach Hause zu holen. (Habe ich es Ihnen schon erzählt? Er lebt jetzt dort.) Ich fahre so oft dorthin, dass ich die Strecke mühelos in meinem Kopf Meter für Meter rekonstruieren kann. Ich fahre meist ziemlich schnell, wenn ich ihn abhole, wenn ich ihn dann wieder zurück bringe, habe ich es nicht so eilig. Selbst nach drei Jahren sind die Abschiede (ihn mehrfach zum Abschied küssen und drücken, ihn dann ein letztes Mal küssen, dann schnell nach draußen treten und die Haustür schnell hinter mir zuziehen, die sich automatisch verschließt, dann die Rollstuhlrampe runterlaufen zum Auto) wie kleine Tode, als ob sich die Sonne langsam verdunkelt. Als würde sich etwas Böses und zutiefst Unnatürliches ereignen.
Heute kam ich an, bevor Walker aus der Schule zurück war. Ich wartete in der Küche. Im Haus war es völlig still und trübe. Sieben Leute im Wohnzimmer, die Bewohner des Hauses – Jasmine, Colin, Jossuf, Tharsika, Cindy und Karen, mit Marcus (der Lippen lesen kann) – die Fernsehen guckten, während der Ton abgedreht war – es war kein Laut zu hören. Natürlich nicht: Keiner von ihnen kann sprechen. Sie waren verloren in ihren Helmen und Rollstühlen und ihren privaten Gedanken. Kritzelten mit den Händen in der Luft herum. Sprangen wieder und wieder vor, mit den Gesichtern zur Wand. Es hätte auch eine künstlerische Performance sein können. Ihr einsamer, ängstlicher Schmerz.
Dann hörte ich Walkers kleinen gelben Bus, der vor der Einfahrt hielt. Ich rannte hinaus, um ihn in Empfang zu nehmen. »Hallo, Beagle!«, sagte ich. Zu meiner Überraschung sprang er mir in die Arme. Trotz all der Male, an denen ich ihn hier abgeholt habe, seit er ausgezogen ist, bin ich mir nie sicher, ob er sich an mich erinnert. Das tut er immer, aber ich bin mir vorher trotzdem nie sicher.
Ich drückte ihn ganz, ganz fest.
Und dann, während wir seine Pumpe, seine Ersatznahrung, seine Medikamente, seine Schneehosen und seinen Tarn-Rucksack, seine Armschienen und seinen Kunststoff-Helm zusammen sammelten (ich habe die Karre vergessen), spazierte er ins Wohnzimmer davon.
Keiner der anderen hatte › Hallo ‹ gesagt, aber er konnte es ja auch nicht. Er ging stattdessen direkt zum
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