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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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Holland sind einige Gemeinschaften für Behinderte besonders progressiv: Professionelle Sexmasseusen werden regelmäßig von einigen Heimen angeheuert. »Hier«, sagte Garry, »existieren, wenn du körperlich behindert bist, deine körperlichen und sexuellen Bedürfnisse nicht. Stattdessen bist du ein Engel.« Er wollte, dass das französische System etwas nachsichtiger sei. Ich muss zugeben, dass ich anfangs schockiert war, aber das bin ich häufiger: Das erste Mal, als jemand mir nahelegte, dass Walker eines Tages heiraten könnte, zuckte ich regelrecht zurück. Aber warum sollte er nicht heiraten? Sein Zustand beraubt ihn ohnehin schon so vieler Freuden, warum sollte er den Freuden einer festen Freundin entsagen sollen, wenn es eine feste Freundin geben sollte, die ihr Leben mit ihm teilen wollte?

Dreizehn
    AUS MEINEM NOTIZBUCH vom 8. Dezember 1999, als Walker drei Jahre alt war:
    Wir wohnen im Yacht Club Hotel, einer Disney-Ferienanlage, hier in Disneyville in der Disneyworld im Disney-Universum. Auf Einladung von Johannas Stiefvater Jake und ihrer Mutter Joanne. Ihre Schwester, ihr Bruder und deren Ehepartner und Kinder sind ebenfalls hier.
    So viele sehr, sehr seltsame Dinge. Zunächst einmal Walker, der leidet, sich ununterbrochen an den Kopf schlägt, der weint, dem der Rotz runterläuft, der völlig durchdreht – er hat Schmerzen, aber keiner weiß warum. Ich vermute Zahnschmerzen oder Reizüberflutung. Meine Angst ist – unbegründet und doch anhaltend – dass er sich selbst absichtlich verletzt, dass er weiß, dass mit ihm etwas nicht stimmt.
    Dann ist da Jake, der langsam an Knochenkrebs stirbt – unfassbar traurig, aber niemand spricht darüber. Er hat einen Motorroller, mit dem er herumfahren kann, die Kinder fahren mit. Manchmal tun wir das nach ein paar Drinks alle.
    Dann ist da natürlich auch Disneyworld selbst. Die große amerikanische Oase des Immergleichen. Ich frage mich, wie Archäologen in tausend Jahren Disneyworld wohl interpretieren werden – als religiöses Heiligtum, vermute ich, und ganz zu Recht. Disney-Melodien strömen hier sogar aus dem Gebüsch, und ich zucke jedes Mal vor Schreck zusammen. Die Angestellten sind angewiesen, freundlich zu den Gästen zu sein und auf jeden Fall erst einmal nach deren Wohlbefinden zu fragen, koste es, was es wolle: Selbst die Männer, die auf den Fluren im Hotel Leitungen reparieren und endlose Kilometer Teppichboden mit RugWrap, einer undurchlässigen und Schmutz abweisenden Folie, bedeckt haben, lassen alles stehen und liegen, als Walker und ich auf einer Tour durch die Korridore vorbeischlendern, und sagen: »Ja, hallo! Wie geht es Ihnen heute?« Da sehne ich mich geradezu nach einem skrofulösen Scheißkerl, der mir sagt, ich solle doch tot umfallen, bloß damit ich wieder auf dem Boden der Realität ankomme.
    Ich bin schlecht gelaunt. Ich bin schlecht gelaunt, seit ich hier bin. Walker erinnert mich immer wieder daran, dass das Leben kein »Thema« hat.
    Mit Ausnahme von Disneyworld, wo man, wenn man etwas unternehmen will, es innerhalb eines Themenparks machen muss, und vorzugsweise auf einem Roller. Kein Wunder, dass Hayley heute Morgen zu mir gesagt hat: »Mickey gibt es in echt, Papa.« Und dich nicht, Papa, hätte sie vielleicht noch hinzufügen können. Niemand benutzt Geld: Unsere Ausgaben werden schlicht von unserem Guthaben auf der Disneycard abgezogen, die natürlich überall eingesetzt werden kann, weil alles Disney gehört. Es gibt einen Wasserpark, der Blizzard Mountain heißt und die Illusion erweckt, als würde mitten in Florida ein riesiger Gletscher schmelzen, aber anstatt auf Skiern Pisten hinabzufahren, rutscht man im Badeanzug Rutschen hinunter. Und das ist der Beste der Themenparks. Heute machen wir »Epcot«, gestern war der Wasserpark dran und das »Magic Kingdom for the Christmas Party«, morgen, wer weiß, das Königreich der Hirntransplantation. Das ist es, was mich so miesepetrig macht: Es gibt überhaupt keinen Raum für irgendeine Differenz, irgendeine Abweichung von der Norm, vom Gesamtpaket, vom Einssein mit der Mausheit. Hier ist man kein Individuum, man ist ein Mitglied der ausgedehnten und automatisierten Maus-Familie. Walker auch. Ich denke, das könnte man auch eine Form der Inklusion nennen. Aber das ist das Problem mit einer offiziellen Politik der Inklusion: Man kann nie der sein, der man wirklich ist. Ich vermute, ich fühle mich in der Disneyworld so wie Walker in der realen: Sie hat ihre Reize, aber

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