Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
weinen. Warum? Weil es so weh tut, das sehen zu müssen? Nein: Sein Schmerz macht mich wütend. Was mich zum Weinen bringt, vermute ich, ist der verborgene Optimismus in genau jener Krise: Zumindest hatte er gehofft, den Schmerz zu besiegen, hatte erwartet, dass er vielleicht vorüberginge. Ein Freund aus Winnipeg hat es neulich gut ausgedrückt, im Zusammenhang mit etwas anderem: Zum guten Schluss wartet immer ein Becher Grog auf die Unbesiegten.
Ich glaube, darum geht es, wenn ich regelmäßig weinen muss. Walker hat die gleiche Wirkung wie das Ballett: Sie können beide die eigentliche Form der Welt enthüllen. Er ist eine der Quellen, in denen die Hoffnung wohnt.
Wer sich also fragt, welchen potenziellen Wert ein schwerbehindertes Kind und welche mögliche Bedeutung ein Leben im Halbschatten haben mögen, das sich hauptsächlich unter Schmerzen vollzieht, dann ist das eine Möglichkeit. Was wäre, wenn Walkers Leben eine Art Kunstwerk im Werden ist – möglicherweise sogar ein kollektives Kunstwerk? Würde Sie das davon überzeugen, an meiner Stelle für ihn zu sorgen?
Jeden Tag denke ich zum ersten Mal vor dem Frühstück an ihn, um viertel vor sieben am Morgen, während ich meiner Tochter ihr Lunchpaket für die Schule mache und dabei hinten im Küchenschrank auf seine Ernährungsgerätschaften stoße, oder wenn ich die immer noch kaputten Jalousienlamellen an der Haustür bemerke, während ich die Zeitung hole. Fotos von ihm kleben am Kühlschrank und an meiner Kommode, die ich sehe, während ich mich anziehe, da sind diese Magneten am Kühlschrank, die ihn faszinieren. Sein leeres Schlafzimmer ruft mich vom Treppenabsatz her. Jedes Mal, wenn er in meinen Gedanken auftaucht, erinnere ich mich daran, dass wir mit ihm nicht mehr zurechtgekommen waren, und meine Hände und meine Brust werden kalt, ich denke daran, wie lange es her ist, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe, und wann ich ihn das nächste Mal sehen werde, erinnere mich daran, was ich das nächste Mal zu erledigen habe (der Arzt? die Versicherung? Tests?), zähle, wie viele Tage er jetzt fort war und fühle mich dann gut oder mache mir Vorwürfe angesichts dieser Zahl, denke über seine Kopfform nach, über seine Augen, ob er vielleicht sprechen könnte, überlege, wann in der kommenden Woche ich Zeit finden werde, um hinauszufahren, um ihn abzuholen, und um welche Tageszeit der Verkehr am wenigsten dicht sein wird, denke daran, mich mit Olga abzusprechen, denke an Hayley, die irgendwann allein mit ihm auf der Welt sein wird. Für einen Jungen mit so wenigen Zielen bringt er mich oft zum Nachdenken.
Aber nachdem Walker in sein neues Zuhause gezogen ist, vergesse ich allmählich den Rhythmus seines Schlafs. Ich muss weinen, wenn ich das so sage: Wie konnte ich ihn so sehr hängen lassen? Und was wird ihn wieder aufmuntern? Ich vergesse, wie energisch er darauf bestand, sich den Kopf zu schlagen, die Wand, meinen Kopf mit seinem Kopf, bis er nach Hause auf Besuch kommt und mich wieder an alles erinnert. Ich vergesse, wie allmählich und unaufhaltsam er aufwacht, wie er ganz langsam jeden, der bei ihm liegt, mit der Aussicht seines bevorstehenden Wachseins quält, indem er immer wieder seinen Kopf schlägt oder immer mit wieder mit seiner Hand schabt (hart, an etwas Härterem), mit dem immer gleichen Murmeln oder Stöhnen, bis er schließlich, und oft unglücklich dabei, ganz wach ist. Ich vergesse, wie anhaltend er gegen die Wand hämmern kann, vier und fünf Mal in der Minute, zwanzig Minuten lang, ohne die Augen zu öffnen, und wie schnell ich zur Tat schreite, um ihn unter Kontrolle zu behalten, damit er doch weiterschläft. Ich vergesse, wie ruhig er im Zuge dieses Auftauchens doch immer noch aussehen kann, die Nahtlosigkeit seiner Augenlider, die Glätte seiner Stirn, wie hübsch und ganz gelassen mein kleiner krummer Junge sogar aussehen kann. Wie überzeugend seine trügerische Ruhe wirken kann. Ich vergesse, wie sehr er einen zur Weißglut bringen kann, wenn er sich meinem Willen nicht beugt. Letzten Sommer blieb er, im abgelegenen Sommerhäuschen unserer Freunde am See, bis viertel vor drei Uhr morgens wach. Ich versuchte das erste Mal um viertel vor elf, ihn ins Bett zu bringen, als Johanna sagte: »Du musst ihn jetzt mal Olga abnehmen, sie hatte einen langen Tag.«
Ich unterdrückte mein wie üblich aufwallendes Ressentiment. Ich zog ihm seinen Helm aus, hob ihn, schwer wie er war, ins Bett und ließ mich neben ihn fallen. Ich sang
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