Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Er erinnert mich daran, wie es mit einem Baby ist. Aber während ich gedacht habe, Walker würde sich nicht verändern, verändert er sich in Wirklichkeit unentwegt.
Auf der letzten Fahrt nach Hause weigerte er sich, auch nur irgendetwas zu tun, um das ich ihn gebeten hatte, weigerte sich zwei Tage lang, mich auch nur zu beachten: hämmerte auf den Tisch, inspizierte die Mikrowelle, spielte mit Olga. Er benahm sich wie ein Teenager, spielte auf Zeit. Am Abend des zweiten Tages, nach dem ich ihn dreißig Mal darum gebeten hatte, doch zu mir zu kommen, warf er mir sozusagen einen Knochen zu. Er setzte sich auf mein Knie, sah mich an und – ganz, ganz langsam – grinste mich kurz an, während er sich schon wieder nach seinem nächsten Ziel umguckte. Ich muss sagen, dass mir das Wort wissentlich in den Sinn kam. Er schien ganz genau zu wissen, was er da tat: Zeit, den alten Mann mal zu besänftigen, der offenkundig besänftigt werden muss – nicht wahr, alter Mann.
Ich habe nie erwartet, dass er selbstständiger werden und ein Eigenleben entwickeln könnte, aber er ist es, und er hat es. Die jüngste Entwicklung, erzählen mir die Mitarbeiter im Wohnheim, ist, dass er »Bus Bus Bus!« ruft, wenn der eintrifft. Ich kann das kaum glauben. Aber es hat auch andere Verschiebungen gegeben, subtilere Änderungen im Strom seines Lebens.
Es gab einen Abend im November, sechs Monate vor dem Zeitpunkt, an dem ich dies schreibe, an den ich mich besonders gut erinnern kann. Ich traf gegen sechs Uhr ein, um Walker einzusammeln und zu uns mit nach Hause zu holen. Als ich in die Einfahrt einbog, starrte Colin, der älteste Junge im Haus, aus seinem Schlafzimmerfenster, das rechts von der abgeschlossenen Haustür lag. Er stand so dicht an der Scheibe, dass sich sein Atem auf dem Glas niederschlug, neben seinem Toronto Maple Leafs-Sticker. Colin war ein schüchterner Junge: klein, dünn, fünfundzwanzig (das war ein Schock – er sah aus wie sechzehn), mit permanent gerunzelter Stirn, deformiertem Gesicht und gekrümmtem Körper, der verstand, aber nicht sprach und Videospiele liebte, dabei aber sehr höflich war. Er ließ zu, dass Walker zwischen ihm und dem Fernsehschirm stand, wo seine Videospiele liefen, und wartete geduldig, bis Walker sich weg bewegte. Ich sagte immer hallo zu Colin, ging zu ihm und rubbelte ihm den Rücken, behandelte ihn als den Ältesten, den Anführer, es war das Einzige, was ich glaubte, tun zu können, die einzige Art, eine Beziehung herzustellen, ohne dass ich mir wie ein Idiot vorkam. Er stellte selten Augenkontakt her und hielt den Kopf gesenkt, aber mir fiel auf, dass er immer still in sich hinein lächelte, wenn ich seinen Namen sagte, und wenn ich seinen Namen beim Abschied rief, was ich immer tat, lächelte er noch einmal und schaute heimlich auf. Seine Schüchternheit und Verstecktheit, seine Scham, seine Freude, seine Dankbarkeit, seine Einsamkeit, seine Sehnsucht – all das war in diesen Augenblicken gleichzeitig zu spüren.
Einige Wochen verstrichen. An einem Montag im Dezember rief mich spät Trish Pierson, Walkers Nachtbetreuerin, auf dem Handy an. Das war ungewöhnlich. »Ich dachte nur, dass Sie vielleicht wissen möchten, dass Colin fast am Ende ist«, sagte sie. »Weil Sie ja doch einen Draht zu ihm haben.« Er hatte bloß eine Lunge – das war mir nicht klar gewesen – und jetzt versagte sie. Ich war absolut sprachlos.
Colin lebte noch drei Tage, und dann war er tot. Nun hat niemand was dafür oder dagegen, wenn Walker die Sicht auf den Fernseher verstellt.
Eine Woche später kam Walker zu uns nach Hause. Ich kam nach der Arbeit durch die Tür, und Olga sagte Walker, dass ich zu Hause sei, und er kam zu mir, um hallo zu sagen – was ungewöhnlich war, normalerweise tut er das nicht, man muss ihn rufen. Er wirkte nicht traurig, aber so, als wartete er auf etwas. Wenn er an irgendetwas gedacht haben könnte, dann wäre das jetzt der Fall, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Ich wusste nicht, ob ich Colin erwähnen sollte. Hatte er es bemerkt? Trish glaubte nicht, dass irgendeiner der Bewohner Colins Tod registriert hatte, aber ich war mir da nicht so sicher.
Ich dachte: Ich werde auf jeden Fall etwas sagen. Er stand neben mir, und er löste sich nicht aus meinen Armen, aus dieser elementaren tröstlichen Geste. »Hallo, Beagle«, sagte ich, weil es das ist, was ich, um Beständigkeit zu vermitteln, immer sage, »wie geht’s dir?« Ich rubbelte ihm kurz die Schultern, wie ich es
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