Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Wissenschaftler, die glauben, dass schwer entwicklungsverzögerte Kinder wie Walker die Geschwindigkeit, in der sie sich entwickeln, selbst festlegen, dass sie ein Gefühl dafür haben, was sie zustande bringen können und was nicht, und sich dementsprechend anpassen. Darcy Fehlings, eine Ärztin und Expertin für kindliche Entwicklung am angesehenen Bloorview Kids Rehab Centre in Toronto, hatte Walker schon als Baby gekannt. »Ich glaube, dass die Kinder so weit wie möglich in der ihnen eigenen Weise die Umgebung um sie herum entschlüsseln«, sagte sie eines Nachmittags zu mir. »Ich glaube, es gibt Muster, die Walker wiedererkennt, die ihm Trost und Halt geben.« Aber er konnte nur das in sich aufnehmen, zu dem er gerade fähig war – und wenn er schnell überstimuliert wurde und keinen Augenkontakt herzustellen vermochte, dann war er für Zeichensprache noch nicht bereit: Das war mein Problem, nicht seins. Auf der anderen Seite erinnerte sich Dr. Fehlings daran, mit welcher Begeisterung Walker als kleiner Junge eine Rutsche heruntergerutscht war. »Das, die Rutsche, war eine Bewegung, die er verstehen konnte«, sagte sie.
Etwas anderes, das ihm absolut einleuchtete, war so lange aufzubleiben, wie er konnte, und dabei so körperlich aktiv zu sein wie möglich, so lange noch ein Funke Energie in ihm steckte. Er wollte absolut nichts verpassen. Selbst in seinem neuen Haus, während er allmählich zum Teenager wurde, war es selten, dass er durchschlief, und wenn er es einmal tat, waren seine Betreuer ganz enthusiastisch, weil er dann nicht so launisch war. »An seinen glücklichen Tagen springt er auf dem Bett herum«, sagte Trish eines Tages zu mir, »und wenn man das Netz schließt« – das Geflecht vor seinem Bett, das verhindert, dass er heraus fällt – »dann rennt er in das Netz und fällt aus dem Bett. Er glaubt, dass das wahnsinnig komisch ist.« An den Wochenenden ging sie mit ihm nach dem Schwimmen im Community Centre spazieren. »Sie kennen ihn alle bei Sobeys«, erzählte sie vom örtlichen Supermarkt. »Alle sagen sie › Hallo, Walker ‹ . Und dann holen wir uns Kaffee, und er versucht, alles runterzuschmeißen, und dann setzen wir uns hin.« Er liebte es, Nudelpackungen und Suppendosen aus den Regalen zu fegen.
Er neigte dazu, die Frauen mit seinen Armschienen in den Hintern zu boxen, aber nicht die Männer. »Nur die Mädchen«, sagte Tanya, »weil er einen Kick davon bekommt. Sie sagen: › Walker, hau mir nicht auf den Popo. ‹ Und er sagt: › Heh, heh, heh. ‹ Sie sah ihn an. »Ist das dein Paarungstanz?«, sagte sie, und ihr säuselnder Inselakzent schwächte den Scherz etwas ab. Ton, Modulation, Implikation: Das kriegte er alles mit. Er war ein Meister des Unausgesprochenen.
Nach drei Jahren von Nächten mit meinem Sohn weiß Trish Dinge über Walker, die ich nicht weiß. Von ihren Expeditionen bringt sie Goldklumpen mit und legt sie mir hin, damit ich sie anschaue und bewundere.
Sagen wir, es ist der Tag, an dem ich Walker und Trish am Toronto Hospital for Sick Children um 6:30 Uhr morgens treffen soll, die vorgeschriebene Zeit zur Anmeldung für den 9:00 Uhr-Termin, damit ihm die Zähne gereinigt, die Ohren gespült und sicherheitshalber auch noch ein Hörtest durchgeführt werden kann. Nichts Ernsthaftes – aber weil es Walkers Ohren und Walkers Zähne sind, erfordert die ganze Prozedur eine Vollnarkose. Ohne eine Vollnarkose ist nichts davon möglich: Walker wird nicht still sitzen, damit ihm jemand eine Sonde in sein Ohr einführt, nicht einmal für eine Zahnbürste in seinem Mund. (Die einzige Person, die ihm die Zähne putzen kann, ist Olga, seine Kinderfrau. Bei ihr unterwirft er sich und stößt nur ein leises, gleichmäßiges Stöhnen aus, wie eine Ölpumpe.) Es gibt die üblichen Verzögerungen im Krankenhaus: die übliche Wartezeit von ein bis zwei Stunden, plus das übliche Gespräch mit dem Anästhesisten, heute ein junger Inder, der kaum in den Zwanzigern zu sein scheint und der wissen will, ob Walker irgendwelche Allergien hat und wo genau Walkers Herzgeräusche sind. Ich sage: »Das wird in der Krankenakte stehen«, was ich immer sage. Aber weil die Akte fast zwanzig Zentimeter dick ist, scheint niemand sie zu lesen.
Inzwischen blättert der junge Arzt sie durch: Über seine Schulter hinweg kann ich Briefe von Neurologen sehen, die ich gelesen habe, aber Kopien von ihnen zu bekommen, ist, als wollte ich geheime Dokumente der Regierung in die Hände bekommen. Walker
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