Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
ihm meinen Vorrat an Liedern vor – die einzigen Lieder, von denen ich tatsächlich die Worte behalten habe, »Amazing Grace« (vier Strophen, eine davon erfunden), » Amore «, »Are You Lonesome Tonight?«, »Old Man River«, dann noch mal eine Wiederholung von »Amazing Grace«, diesmal zur Melodie von »The House of the Rising Sun«, so wie die Blind Boys of Alabama es singen. All das machte ich zwei Mal. Das funktionierte nicht. Ich bettelte ihn an, schnalzte, scherzte, lachte, hielt ihn unten, flüsterte ihm ins Ohr, rieb ihm den Kopf, den Rücken. Ich tat alles, was mir jemals dazu eingefallen war. Als Reaktion darauf versuchte er wiederholt, womit ich drei Dutzend Male meine, und mit pathologischem Enthusiasmus, seinen Kopf gegen meinen Kopf zu hämmern, so hart, wie er konnte. Er erreicht eine 40-prozentige Trefferquote.
Schließlich, nach vier Stunden, nachdem ich zwei Mal aufgestanden war, um den Nachtgeräuschen zu lauschen und die geschützte Veranda mit ihm auf und ab zu marschieren und nachdem er mir einen mir besonders bösartig vorkommenden Schlag auf die Nase verpasst hatte, gab ich ihm einen mittleren Klaps auf den Hintern und schimpfte mit ihm. »Na gut, du kleines Miststück, jetzt reicht’s mir aber!«, knurrte ich. Ich wusste, ich war in der Gefahrenzone, wo, wie die Erziehungsratgeber sagen, man einen Schritt zurück machen muss. Ich dachte kurz daran, jemand anderen aufzuwecken, Johanna oder meinen Gastgeber, und um Hilfe zu bitten. (Niemals Olga: Sie hatte schon den ganzen Tag hart gearbeitet, und mit den Nächten mussten wir allein klarkommen.) Ich habe natürlich niemanden geweckt. Ich tue das so gut wie nie. Aber es gab die Option. Ich könnte mich immerhin an jemanden wenden. Allein, ohne irgendjemanden, an den man sich wenden könnte – über diese Alternative mag ich gar nicht nachdenken.
Stattdessen gab ich ihm den Klaps und sagte ihm, er solle sich benehmen. Woraufhin er sich auf seine Seite legte, sich auf seinen Ellbogen stützte, mir ins Gesicht starrte, als wäre er Milton Berle, ein lautes, gackerndes » HA !« ausstieß und sich dann hinlegte und einschlief. Er wollte mir bloß demonstrieren, dass er jetzt noch länger durchhalten konnte als ich, dass er sich durch nichts mehr kleinkriegen ließe. Ich weiß nicht, wie andere, normale zwölfjährige Jungen diesen Augenblick ihren Vätern vermitteln, aber so hat es Walker mir gesagt. Er benutzte eben, was er hatte.
Aber woher wissen Sie, dass es das ist, was er Ihnen zu sagen versucht?, könnte jemand fragen. Woher wissen Sie, dass Sie sich all diese Botschaften nicht bloß einbilden? Wenn er doch nicht reden kann, woher wissen Sie, dass Sie sich das alles nicht bloß ausdenken? Die Antwort ist, ich weiß es nicht. Aber der durchschnittliche Vater weiß oft auch nicht, ob er und sein Sohn ihr gemeinsames Band nicht auch bloß erfinden. Der Rahmen jeder menschlichen Beziehung existiert hinter einem Schleier von Worten, und er klingt manchmal anders, als er ist. Nur ein Narr oder jemand, der es auf eine Enttäuschung anlegt, würde etwas anderes behaupten. Walker und ich erschweren unsere Verwirrung nicht auch noch durch Worte. Wir ziehen Geräusche vor.
Nachdem Walker in seinem anderen Zuhause zwei Jahre gelebt hatte, hatte ich einen Traum: Er war in seinem neuen Haus, und ich war zu Besuch. Er war sehr, sehr glücklich: Er konnte immer noch nicht sprechen, aber er verstand alles und konnte sofort alles, was er sagen wollte, durch Murmeln vermitteln. Nach unserem Besuch brachte er mich zur Haustür, um auf Wiedersehen zu sagen, und stand strahlend da. Seine Hausgenossin Chantal oder seine andere Freundin Krista Lee oder eine Art Mischung aus beiden stand hinter ihm. Es war klar, dass sie seine Freundin war. Das freute mich: Ich wusste, dass er endlich jemanden gefunden hatte, den er lieben konnte und der ihn liebte, nicht bloß in der allgemeinen Art, in der alle Walker lieben, aber auf eine Weise, die nur er verstand – seine eigene, private Liebe, endlich, ein Geben und Nehmen. Und wir beide wussten das. Er lächelte, als ich auf Wiedersehen sagte und sah mir direkt in die Augen und nickte, gab mir seinen Segen. Er hatte mir wegen seines Lebens vergeben. Aber am Ende war das ja bloß ein Traum.
Er wird dort zu einem anderen Jungen, in seinem anderen Zuhause. Er hat ein eigenes Leben, etwas, von dem ich geglaubt hatte, dass er es nie erfahren würde. Geistig ist er immer noch ein Kleinkind, und er wird es immer bleiben.
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