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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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zwanzig Pence abzählen konnte, der nicht sagen konnte, wer seine Mutter oder sein Vater waren und nicht begreifen konnte, was zu seinem Vorteil war. Im Jahre 1801 hatte Philippe Pinel, der Vater der Psychiatrie, dann die Regeln aufgestellt: Es bestand nicht allzu viel Hoffnung darauf, die geistig Minderbemittelten erziehen und ausbilden zu können, aber eine humane Fürsorge für ihre körperlichen Bedürfnisse war das Mindeste, was die Gesellschaft ihnen anbieten konnte. (Von den 31951 Kindern, die zwischen 1771 und 1777 ins Pariser Findlingsheim kamen, starben fast 25 000 innerhalb eines Jahres.) Pinel war unorthodox: Er zog eine Laufbahn in der Medizin der in der Kirche vor, nachdem ein enger Freund wahnsinnig geworden war. Aber sein Wunsch, geistig beschränkten Menschen zu helfen, indem er sie rationalisierte, organisierte und kontrollierte, produzierte auch einige der inhumansten Zustände in der Geschichte Europas. In der Salpêtrière, der berühmten psychiatrischen Anstalt, die Pinel leitete, wurden dreitausend Frauen in Leinensäcke gekleidet und schliefen jeweils zu fünft in einem Bett, ihre tägliche Nahrungsration bestand aus einem Becher Haferschleim, einer Unze Fleisch und drei Scheiben Brot. Über tausend Menschen, die »ihren Verstand verloren« hatten, lebten allein in einem Flügel der Anstalt. In Bicâtre, einem weiteren, noch schrecklicheren Pariser Irrenhaus, das Pinel leitete, lebten Kriminelle Seite an Seite mit geistig Behinderten oder geistig Beschränkten, und oft wurde das Essen aus schierer Notwendigkeit mit aufgepflanztem Bajonett serviert. Und doch hat sich diese Vision kontrollierten Wahnsinns durchgesetzt und die Bürger Europas überzeugt (wie der Bau von Gefängnissen amerikanische Wähler in den letzten dreißig Jahren davon überzeugt hat, dass ihre Gesellschaft geordnet und sicher und gerecht ist). Das Wegsperren geistig Zerrütteter wurde zur Mode: Einer von Hundert Pariser Bürgern verbrachte einige Zeit in Anstalten.
    Es blieb auch nicht bei Pinel in Frankreich. Um 1890 hatte sich innerhalb Europas die Zahl von Menschen in Anstalten mehr als verdoppelt. »Eine neue Trennungslinie ist aufgetaucht«, schreibt Foucault, »die die Erfahrung, die der Renaissance noch so vertraut war – unvernünftige Vernunft oder vernünftige Unvernunft – unmöglich macht.« Ich habe kein Interesse daran, geistige Behinderung zu romantisieren, aber ich weiß, was diese Oxymora bedeuten: Sie sind ein Weg, um den Versuch zu machen, Walker und mich selbst zu verstehen, indem man einem Jungen zuhört, der nicht sprechen kann, und einem Jungen folgt, der kein bekanntes Ziel kennt.
    Es war genau dieser Impuls des Establishments der Rationalität zum Einkerkern, Bürokratisieren und Kontrollieren, gegen den allmählich eine alternative Sicht auf Behinderung aufflackerte. In Italien verbot Vincenzo Chiarugi beinahe ein Jahrzehnt vor Pinel den Gebrauch von Ketten bei Anstaltsinsassen. »Es ist die oberste moralische Pflicht und das Gebot der Medizin, das wahnsinnige Individuum als Person zu respektieren«, schrieb Chiarugi. Das Ringen darum – die geistig Minderbemittelten als Individuen zu behandeln, als gleichberechtigte und nützliche Mitglieder der Gesellschaft, ganz gleich, wie unterschwellig oder klein dieser Nutzen auch sein mag und wie schwer es uns auch fallen mag, genau zu verstehen, worin er besteht – ist der ungelöste Konflikt in der Geschichte der geistigen Behinderung. Niemand kann leugnen, dass große Fortschritte erzielt worden sind. Allein die letzten einhundertfünfzig Jahre haben die Leben von Menschen wie Walker radikal verbessert. Pasteur und Lister und die Bakterien-Theorie, Marie Curie und Röntgenstrahlen, Virchow und seine Zellen, Gregor Mendels Erforschung der Vererbung, Darwin und die Evolution, Freud und das Unbewusste, selbst die Genforschung, alle haben beigetragen zum Verständnis für die geistig Behinderten und deren Los, ebenso wie eine verbesserte Allgemeinbildung und jüngst erlassene Gesetze, die das Recht der Behinderten, ihr eigenes Leben zu leben, stärken. Aber wir glauben immer noch, »Resultate« seien der einzig wirkliche Maßstab für den menschlichen Erfolg, und wir begehen immer noch Ungerechtigkeiten, um die Illusion aufrecht zu erhalten, dass wir solche Resultate erzielen. Noch 1964 kaufte Jean Vanier das kleine Haus für zwei geistig behinderte Männer, weil die Zustände, die er in den Heimen vorfand (immerhin in Frankreich), ihn alarmierten. Erst

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