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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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Spektakel menschlicher Abweichungen war faszinierend, aber gleichzeitig auch zu erschreckend, um es allzu lange betrachten zu wollen. Das Ergebnis war, wie Michel Foucault in seinem verstörenden Werk Wahnsinn und Gesellschaft eindringlich darlegt, durch die Erfindung von Gefängnissen und Anstalten, des Unterbringens und Wegschließens, nicht nur die Unterdrückung des Wahnsinns, sondern schon der Idee des Wahnsinns. Dieses Wegsperren ist eine Form, das Problem einzudämmen, indem wir es zugleich im Griff behalten und den Blicken entziehen. Mindestens seit dem Beginn des Zeitalters der Vernunft organisieren, kategorisieren und »lösen« wir das Problem der geistigen Behinderung – als Descartes beschloss, dass er nur existierte, weil sein Verstand in der Lage war, zu denken, dass er existierte. Aber während wir das Problem im Lauf der Zeit scheinbar zum Verschwinden gebracht haben, indem wir es scheinbar weggesperrt und gelöst haben, ist es der Gesellschaft auch gelungen, ihre eigene Angst vor Behinderung zu verschließen und wegzusperren, unsere Furcht vor der Aussicht, uns direkt damit auseinandersetzen zu müssen. Wahnsinn, schwere geistige Behinderung und selbst heiterer Kretinismus wurden einst als Seinszustände betrachtet und akzeptiert. Wahnsinn war irrational, aber er war keine Krankheit, die man zwingend heilen musste, Wahnsinn, schreibt Foucault, handelte nicht »von der Wahrheit in der Welt, sondern vom Menschen und der Wahrheit über ihn selbst, wie er sie wahrnimmt.« Walker zeigte mir, was ich nicht sehen wollte – seine umfassenden Bedürfnisse, die Grenzen, aber auch das Potenzial meiner Möglichkeiten und meines Mitgefühls –, doch auch, was ich ohne ihn nie erkannt hätte: seine Fähigkeit, einen flüchtigen Augenblick unvergesslich zu machen, und meine Fähigkeit, seine Bedeutung zu erkennen und zu würdigen. Niemand wollte wahnsinnig werden, aber der Wahnsinn hatte seine eigene Logik, als Weg in eine schwierige Selbsterforschung. In der vorwissenschaftlichen Welt von Shakespeare und Cervantes, wo Kunst, Alchemie, Logik, göttliche Offenbarung und Erfahrung alle den gleichen Status genossen, warf der Wahnsinn einen direkten Strahl ins Dunkel der menschlichen Existenz. In Schmerz und Trauer hinein geboren, nur um sich … dem Tod gegenüber zu sehen! Was konnte dieser Albtraum der Existenz denn bestenfalls für einen Sinn haben? Auch nur über seinen Sinn und Zweck nachzudenken, erforderte schon eine besondere Vision und einen besonderen Standpunkt. Wahnsinn und Geisteskrankheit waren so gesehen schnelle Vehikel durch diesen Tunnel. Geistige Instabilität war ein guter Vorwand, sich unkonventionell zu verhalten und unkonventionell zu denken. Shakespeares Narren oder die Verrückten auf dem Narrenschiff dürfen sagen, was sie denken, und dabei die Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit unserer alltäglichen Ziele offenlegen, die Versagungen, unter denen wir unser tägliches Leben führen – sie können nicht anders, sie sind ja Mängelexemplare. Im mittelalterlichen Europa wurden umherwandernde Verrückte gezwungen, außerhalb der Stadttore zu hausen, gelegentlich aber eingeladen, die Stadtbewohner zu unterhalten – um den Bewohnern die Form ihres Lebens zu zeigen. Es gibt Tage, an denen ich über Walkers Heim am Rande der Stadt, in der ich lebe, nachdenke und zum Schluss komme: kein so großer Unterschied.
    Aber Verrückte und geistig Minderbemittelte forderten die gesellschaftliche Ordnung heraus, sagt Foucault, und wurden »kalibriert« (was bedeutete, dass man sie »verstehen« konnte) und dann unterdrückt (»behandelt« und eingesperrt). Foucaults Sicht auf Geschichte und Zivilisation als Vehikel menschlicher Repression verblüffte mich mitunter, und oft kam sie mir auch übertrieben vor, aber ich verstand, was er meinte: Wenn ich es zu befriedigend finde, einfach mit Walker zusammen zu sein, werde ich weniger dazu beitragen, mit den anderen mitzuhalten, um jeden Preis voranzukommen, zu dem ganzen fremdbestimmten und ergebnisorientierten, erbarmungslosen Konkurrenzkampf des westlichen Kapitalismus weniger beitragen, der zum Beispiel die globale ökonomische Krise des Jahres 2008 ausgelöst hatte. Wir wollen den Status quo erhalten, sagt Foucault, und daher machen wir uns daran, den Wahnsinn zu »heilen« und eine »Lösung« zu finden.
    Gegen Ende des 16. Jahrhunderts war geistige Zurückgebliebenheit auch zum ersten Mal quantifiziert worden: Ein Säufer und Idiot war jemand, der keine

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