Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
ist, wenn er zufrieden ist, ist er ein wunderschönes Kind. Sein Lächeln, wenn er lächelt, also man schmilzt dahin. Dieses alberne kleine Grinsen, dieser Seitenblick. Manchmal halten mich Leute mit ihm an und fragen: › Brauchen Sie Hilfe? ‹ Man wirft Ihnen diesen mitleidsvollen Blick zu, wissen Sie? Und es ist gar nicht nötig. Wenn man nämlich seinen glücklichen Ausdruck sieht, dann bemitleidet man ihn gar nicht.«
Vierzehn
WALKER ZWINGT MICH , im Hier und Jetzt zu leben, er lässt mir keine andere Wahl. Aber wie wir alle ist auch er ein Produkt der Vergangenheit.
Die Geschichte der Fürsorge für geistig Behinderte ist auch die Geschichte unseres Unbehagens angesichts des Irrationalen und unseres Ringens mit dem, was uns erschreckt, unserer Sehnsucht nach Kontrolle über das, was uns begegnet. Es gibt archäologische Beweise dafür, dass die Neandertaler für ihre körperlich behinderten Stammesangehörigen gesorgt haben (ich vermute, dass geistige Behinderungen damals nicht so auffielen), aber solche Phasen sind im Laufe der Geschichte der zivilisierten Menschheit ausgesprochen selten. Das geläufigere Motto lautete immer: »Aus dem Auge, aus dem Sinn.« Die Tötung behinderter Kinder erreichte ihren Höhepunkt, als sie am unnötigsten war, auf der Höhe von Athens Wohlstand und Macht, und es waren Plato und Aristoteles, die beide gleichermaßen (wenn auch aus verschiedenen Gründen) nahelegten, dass man verkrüppelte und deformierte Kinder gleich bei der Geburt töten solle. In Sparta war in der Zwischenzeit einem Vater das Recht zugesprochen worden, das Leben eines schwachen Kindes auszulöschen. Die geistig Behinderten in Rom wurden im Dunkeln aufgezogen, weil man das für therapeutisch wirksam hielt, zumindest bis der in Rom praktizierende griechische Arzt Soranos von Ephesos (wie hätte er, mit solch einem Namen, etwas anderes als Arzt werden können?), der Vater der Gynäkologie und Kinderheilkunde, gegen diese Praxis zu Felde zog. Er bestand außerdem darauf, dass es geistig Behinderte auch nicht kurieren würde, wenn man ihre Köpfe mit dem Öl von Thymian und Heckenrosen einrieb.
Im Griechischen bezeichnet man mit idios ursprünglich eine Privatperson und jemanden, der nicht zu erkennen ist – daher stammt das Wort »Idiot«, das ungefähr zwanzig Jahrhunderte lang und in Nordamerika noch bis in die 1930er Jahre als gebräuchlicher Begriff für jemanden mit angeborenen, schweren geistigen Defekten galt, im Unterschied zum »Schwachsinnigen«, der normal geboren worden ist, erst später geistesschwach wurde und sich womöglich wieder erholen könnte. Walker wäre wohl als »Idiot« bezeichnet worden: Er ist ein »öffentlicher« Junge, der beinahe von einem ganzen Komitee aufgezogen wurde, aber zugleich auch versteckt und schwer zu erkennen ist, also »privat«. Das Christentum hat die Vorstellung entwickelt, dass jemand wie Walker Gott näher sei (»Denn wer der Geringste ist unter euch allen, der ist groß«, Lukas, 9:46), aber die christliche Kirche hat zugleich auch den Glauben genährt, dass die Verkrüppelten und Wahnsinnigen Hexen seien und vom Teufel besessen, oder eine Art Strafe für die Sünden ihrer Eltern. Die »Poor Laws« Großbritanniens von 1563 und 1601 verpflichteten den Staat zur Fürsorge für die Behinderten, aber bis weit in das neunzehnte Jahrhundert hinein war ein verkrüppelter oder behinderter Mensch weitaus besser dran, wenn er eine wohlhabende und liebevolle Familie und ein großes Haus hatte. Selbst in vielen Teilen Nordamerikas ist das auch heute noch der Fall.
Eine Menge hing davon ab, wo man lebte. Der bereits zuvor erwähnte Martin Luther hasste und beschuldigte die Behinderten als des Teufels, aber in Frankfurt wurden den geistig Schwachen Betreuer zugeteilt, und in Nürnberg gestattete man ihnen, (zumindest eine gewisse Zeit lang) sich, ohne belästigt zu werden, auf den Straßen aufzuhalten und von den Nachbarn ernährt und versorgt zu werden. Tycho Brahe, der erste moderne Astronom (und Keplers Mentor), hielt sich einen behinderten Zwerg als Gefährten und lauschte seinem Gemurmel, als wären es lauter göttliche Offenbarungen. Aber in Preußen wurden die Verrückten oft verbrannt oder eingesperrt. Die Gesellschaft schien, was geistige Behinderung anbelangte, zu keiner eindeutigen Haltung gelangen zu können (die Unterscheidung zwischen Wahnsinn und geistiger Behinderung wurde erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts gemacht, allerdings nur sporadisch): Das
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