Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
vor einem Jahr lernte ich Linda Pruessen bei einem Mittagessen in Toronto kennen, und sie erklärte mir, dass ihre Schwester Caroline, die schwerbehindert und in ihren Dreißigern ist, immer noch zu Hause bei ihren Eltern lebt, die inzwischen beide vierundsechzig Jahre alt sind und immer noch versuchen, für Caroline einen Weg zu finden, wie sie glücklich ohne sie leben kann. Für Pruessens Eltern ist es genau so kompliziert, an einem Freitagabend einen Kinofilm zu sehen, wie einen zweiwöchigen Urlaub zu planen.
»Das Modell, das man uns jetzt nahelegt, ist diese Idee des › Mainstreaming ‹ «, erklärte Pruessen. »Die Idee lautet: integriere die behinderte Person in die Gemeinschaft. Aber an einem bestimmten Punkt fällt das in sich zusammen, weil meine Schwester nie dazu in der Lage sein wird, ein Teil der Gemeinschaft sein zu können. Es ist zum Beispiel sofort erkennbar, dass sie sich körperlich von den anderen unterscheidet. Wenn man sie mit zum Friseur nimmt, werden die Leute sie auf jeden Fall komisch angucken. Ist das ihr gegenüber etwa fair? Ist es nicht vernünftig, anzunehmen, dass sie einen Haarschnitt bekommen möchte, ohne komische Blicke zu ernten?« Wir verbringen achtzehn Jahre damit, Leute wie Walker in öffentliche Schulen zu integrieren, und wenn sie dann mit achtzehn die High School beendet haben, schicken wir sie wieder in eine Gesellschaft zurück, die überhaupt nicht integrativ ist. Walker wird dieses Schicksal erspart bleiben, weil er von Anfang an nicht zu »integrieren« war.
Solche Ungerechtigkeiten gibt es mehr als genug. Eine auf Behinderte spezialisierte medizinische Versorgung ist zum Beispiel in Saskatoon, Saskatchewan, immer noch so rar, dass Julia Woodsworth, eine Zwanzigjährige mit CFC , die mit ihrer Mutter Pam und ihrem Vater Eric zusammenlebt, sage und schreibe drei Jahre lang auf einen Termin beim Zahnarzt warten musste. »Ich habe das Gefühl, dass wir in jeder Phase von Julias Leben immer wieder Vorreiter sein mussten«, sagt Pam Woodsworth. »Aber ich habe nicht das Gefühl, dass es bei einigen Optionen, die Menschen mit Behinderungen betreffen, tatsächlich Fortschritte gibt.« Saskatoon liegt nur 150 Kilometer östlich von Wilkie, Saskatchewan, wo Robert Latimer 1993 seine tetraplegisch gelähmte zwölfjährige Tochter Tracy erstickte, weil er es nicht mehr ertrug, sie leiden zu sehen. Er wurde wegen Mordes mit bedingtem Vorsatz zu lebenslanger Haft verurteilt. »Ich glaube, ich habe eine Menge Mitgefühl mit den Latimers als Familie«, sagte Pam Woodsworth am selben Tag zu mir, als man Latimer die Aussetzung der restlichen Strafe auf Bewährung versagte. (Die Entscheidung wurde revidiert, und Monate später wurde seine Strafe in eine Bewährungsstrafe umgewandelt.) »Die große verbleibende Frage für mich ist, warum hat man nicht unsere Provinz vor Gericht gestellt? Was er getan hat, war ein Akt der Verzweiflung. Die Familie bekam nicht die Unterstützung, die sie brauchte. Es interessiert mich wirklich, auf welche Weise wir, als Mitglieder einer zivilen Gesellschaft, alle Mitschuld an Tracys Tod tragen.«
Jetzt, da die Regierung von Ontario, die das Gesundheitssystem in der Provinz, in der ich lebe, verantwortet, großen Wert darauf legt, dass sich die Wartezeiten für Operationen verkürzen, kann ich, wenn ich ein neues Knie haben will, damit ich besser Ski laufen kann, es innerhalb von sechs Monaten bekommen. Wenn ich den richtigen Arzt kenne, kann ich das wahrscheinlich sogar in zwei Wochen über die Bühne bringen. Warum dauerte es dann sieben Jahre des Herumsuchens, Fragens und Bettelns, um eine anständige Einrichtung zu finden, wo man sich angemessen um meinen Sohn kümmert und wo er auch wirklich die Person sein kann, die er nun mal ist?
Heute habe ich meine eigene ganz eigenen Visionen. In meiner Vorstellung leben Walker und Menschen wie er mit Hilfe von Betreuern in einer L’Arche-ähnlichen Gemeinschaft. Es ist ein wunderschöner Ort in einer wunderschönen Gegend, mit Blick auf das Meer oder die Berge, denn hier sind es einmal nicht bloß diejenigen, die es sich leisten und deshalb den besten Ausblick genießen können, sondern Menschen, die Schönheit noch viel dringender brauchen, weil sie mit so viel weniger leben müssen. In meiner Vorstellung gehört dieses Dorf den Behinderten und wird von ihnen bewohnt, nach ihren Vorgaben, in ihrem Tempo, nach ihren Maßstäben für Erfolg – nicht Geld oder Resultate, sondern Freundschaft,
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