Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
und Tresen.
Er liebte es, Dinge zu berühren. Die unteren drei Leisten jeder Jalousie im Haus waren kaputt. Sein am meisten entwickeltes Bewusstsein schien in seinen Händen zu leben, in dem, was er manipulieren konnte – dem genialen Lichtschalter, der faszinierenden Toilettenpapierrolle, allem, was piepste oder flackerte. Was er berühren konnte, das kannte er.
Das Beste war, wie er angesichts irgendeines geheimnisvollen Dinges in lautes Gelächter ausbrach und sich zu einem Ball des Entzückens zusammenrollte, was Passanten liebten. (Eine Weile vermutete ich, dass er sich seinen Penis zwischen den Schenkeln rieb, eine traditionelle Quelle der Freude für alle Jungs.) Als er älter wurde, wurde er auch schlauer. Er liebte es, Tische und flache Oberflächen abzuräumen, besonders die gut bewachten. Er schnappte nach Weingläsern, die ihm ins Auge zu fallen schienen, und so nannten wir ihn »den Abstinenzler«. Er lenkte einen ab, dann machte er klar Schiff und legte vor Freude den Kopf in den Nacken, einen Moment lang schlauer als alle anderen. War das sein geheimes Vorhaben, uns zu sagen, dass er manchmal schlau genug war, uns zum Narren zu halten? Das würde mich nicht überraschen. Seine Sehnsüchte waren unsichtbar, unaussprechlich, aber das hieß nicht, dass er keine hatte.
Er wurde ein großer Wanderer, einer mit viel Glück. Hier die Geschichte eines Abends:
Er ist fünf. (Wenn er besonders kräftig aussieht, wirkt er wie drei.) Ich lasse ihn in einer geschlossenen Diele am Fuß einer Treppe im eleganten Haus eines Freundes zurück, während wir zu Abend essen. Ich weiß, dass er keine Treppe erklimmen und keine Tür öffnen kann.
Zehn Minuten später. Ich höre etwas klirren. Ein wunderschönes Geräusch, ein Geräusch, als würde etwas die Luft zerreißen, aber so ungewöhnlich, dass ich aufstehe und nachschaue. Es ist Walker. Er hat das Unvorstellbare getan, ist die Treppe hochgegangen und hat die Tür geöffnet und zerschmeißt gerade mit Absicht und sehr fröhlich das letzte von sieben Weingläsern auf einem Beistelltisch von Noguchi. Er hat keinen einzigen Kratzer. Wir nennen diesen Abend in Zukunft Kristallnacht .
Es war kein besonders lustiger Witz, aber wenn man eine Menge Zeit mit einem behinderten Kind verbringt, einem Kind, das eigentlich gar nicht am Leben sein sollte und dessen Überleben dennoch das Leben, das man führt, radikal verändert hat – besonders, wenn das besagte Kind das eigene ist –, dann kann man das Gefühl bekommen, dass man die Regeln auch mal verletzen darf. Der Junge vermisst die Welt neu. Die Krise von der So-und-so, die so unglücklich in ihrem Beruf ist, oder von dem-und-dem, der einfach keine Frau kennen lernt, die ihm die Aufmerksamkeit schenkt, die er für angemessen hält, verblasst vor der Krise, die sich um die Frage dreht, wie man Walker daran hindern kann, sich das eigene Gehirn aus dem Schädel zu schlagen. Die Meinungen anderer Leute bedeuten weniger und weniger, je häufiger man mit einem Jungen die Straße entlang geht, dessen klobiges Aussehen Aufmerksamkeit erregt, gleichermaßen Starren wie Lächeln. Das eigene Leben gehorcht auf einmal anderen Dringlichkeiten.
Ich benutze das Wort zurückgeblieben nie, um einen behinderten Menschen zu beschreiben: Für einen Menschen ist es nicht beschreibungsgenau genug. Aber es erweckt genügend Assoziationen, wenn man ein misslungenes Design oder den besonders störrischen Ansatz eines bürokratischen Verhaltens beschreibt. Manchmal benutze ich das Wort bei einer Party, und ich kann spüren, dass die Person, der gegenüber ich es benutze, bei der plötzlichen Anwesenheit eines angeblich ungewöhnlichen Wortes zurückweicht, wenn auch kaum wahrnehmbar. Ich kann sehen, wie sie den Gebrauch registriert, und ich kann auch sehen, dass die Person beschließt, nicht zu reagieren, weil sie weiß, dass ich einen behinderten Sohn habe: Sie muss denken, also wenn irgendeiner das Wort benutzen darf, dann er. Es muss eine neue Bedeutung erhalten.
Er liebte Frauen, je hübscher, desto besser. Selbst als Kleinkind reckte er schon die Arme, um hochgehoben zu werden – er konnte sich nicht allein aufsetzen, bis er etwa ein Jahr alt war –, oder später, um einer Frau auf dem Schoß zu klettern und sofort in ihren Ausschnitt zu blicken. Dann würde er sie angrabschen. Ich hielt das für zufällig, aber Johannas Freundinnen kommentierten, wie absichtlich das wirkte. Er liebte alles, was glänzte, hielt es sich dicht an seine
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