Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
schiefen Augen. Unsere Freunde nannten ihn »den Juwelier«.
Das heißt unsere engen Freunde. Anderen gegenüber erwähnte ich – zumindest in den ersten Jahren – Walkers Schwierigkeiten nie. Ich schämte mich nicht für ihn. Aber ich wollte kein Mitleid, und ich wollte auch nicht, dass er das Gefühl hatte, er bräuchte es.
Er blieb in meinen Gedanken. Nicht nur düster oder als Sorge, sondern auch als ein geistiger Talisman. Wie natürlich auch meine Tochter. Aber ich musste Hayley immer einholen, während Walker sich nur langsam bewegte und sogar stehend erwischt werden konnte. Seine Aura, die Tatsache, dass er existierte, konnte überall auftauchen, ganz unerwartet: in einem Songtext von Neil Young, der im Fitness-Raum erklang ( »Some are bound to happiness/ Some are bound to glory/ Some are bound to loneliness/ Who can tell your story?« ), zwischen den Zeilen eines Essays von Norman Mailer, den ich während einer meiner Anfälle von Schlaflosigkeit las. Er tauchte in den Gesprächen anderer auf. Einmal hörte ich bei einer Cocktail-Party – das war wohl im Sommer, als Walker drei wurde –, wie ein anderer Mann, den ich seit langer Zeit gut kannte, einem anderen Freund zu erklären versuchte, wie man mit meinem Sohn kommunizierte. »Es ist schwer zu beschreiben«, sagte er. Er hatte einen Drink in der Hand. »Sein Vater hat seine eigene Sprache, so ein Gebrabbel. Es scheint genauso gut zu funktionieren wie alles andere.« Ich konnte nicht sagen, ob er es guthieß oder nicht, aber es war das erste Mal, das ich hörte, dass das, was Walker und ich taten, als Sprache bezeichnet wurde.
Ich fragte mich oft, ob wir uns Walkers Fortschritte nur einbildeten, die Verbindungen, die er herstellte, bloß erfanden. Sagte er wirklich »Heh-Heh«, wenn Hayley in der Nähe war? Oder atmete er bloß? Wenn ich »Tschüs« zu ihm sagte, mich zu ihm hinunterbeugte und ihn küsste, sagte er wirklich »Tschüs«? Oder atmete er bloß ? Johanna hörte es auch: »Er hatte gerade Tschüs gesagt!«, meinte sie und fügte hinzu: »Da muss ich glatt heulen«, und erlebte aufs Neue diese plötzliche Hyperplasie, die unsere Tage kennzeichnete. Er brachte Leute dazu, Dinge zu fühlen. Aber fühlte er irgendetwas? Existierte dieser Umriss eines Jungen, den ich hinter seiner stumpfen Oberfläche, hinter dem absolut ruhigen Gewässer seines Geistes sah, tatsächlich? Oder war das alles bloß Wunschdenken? Ich war oft überzeugt, dass unsere Anstrengung, ein ganzes Wesen in seinen unterentwickelten Teilen zu erblicken, ein Akt beinahe unbedachten Vertrauens war, nicht anders als das Verhalten anderer Eiferer – wie zum Beispiel das der Mutter des Fernsehpredigers aus Houston, die ich einmal kennen gelernt hatte und die mir im Brustton der Überzeugung erklärte, dass es den Himmel gab, dass sie dorthin kommen werde und dass Gott ihren Bereich bereits eingerichtet habe, so wie er das für jeden seiner Gläubigen tat und zwar nach ihrem persönlichen Geschmack. »Mein Himmel wird voller Wasser sein«, sagte sie ganz nüchtern, als würde sie ihren Lieblingserholungsort beschreiben. »Denn ich liebe Wasser.« Bloße Spekulation, aber wo war der Unterschied zwischen ihr und Johanna und mir? Wer will nicht glauben , dass es einen Himmel gibt? Aber das heißt eben nicht, dass er auch existiert.
Und doch war dieses ständige Infragestellen, angeregt durch Walker – meint er, was er tut, tatsächlich oder nicht? – auch ein Modell, ein Rahmen für die ganze Menschenwelt, eine Art zu leben.
Im Sommer, als Walker zwölf wurde, machten wir unsere erste längere Urlaubsreise ohne ihn. Es war derselbe Sommer, in dem er lernte, fast immer auf die Bitte »gib mir fünf« zu reagieren. Während Walker in Toronto in einem Erholungscamp war, fuhren Johanna, Hayley und ich für eine Woche in das Haus meines Bruders Tim in Rockport auf Cape Ann, nördlich von Boston. Tim und ich hatten dort als Jungen unsere Sommer verbracht, mit unseren Eltern und Schwestern, wir hatten dort Schwimmen und Segeln gelernt, anständig Hummer zu essen, gelernt, das Meer voll und ganz zu genießen. Dort waren wir selbstständig und Freunde geworden.
Das Haus liegt am Meer, eine quadratische, makellose Behausung, von der aus man über den Atlantischen Ozean auf die Thacher-Insel blickte, eine Untiefe, die so gefährlich ist, dass nicht ein, sondern gleich zwei Leuchttürme dort aufragen. Es ist mir einer der liebsten Orte auf der Welt, und ich muss dort immer an Walker
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