Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
denken: Er war im ersten Sommer, als wir dorthin gefahren waren, mit uns zusammen gewesen, bevor Tim das Haus gekauft hatte, im ersten Sommer, als er und ich das Haus noch zusammen gemietet hatten. Walker wurde im Juni geboren, fünf Wochen zu früh, aber wir fuhren trotzdem im August nach Boston, als Walker kaum sechs Wochen alt war. Damals, als wir noch nicht wussten, dass etwas mit ihm nicht stimmte, als er bloß ein Kind zu sein schien, das mühsam zu füttern war. Damals dachten wir, wir kriegen alles hin. Zwei Wochen lang saß meine Frau in einem Stuhl in der Küche des gemieteten Hauses am Meer und versuchte, unserem komischen kleinen Sohn Flüssigkeiten einzuflößen, während sie auf die beiden Leuchttürme hinausblickte.
Der Sessel hatte grüne Kissen und Armlehnen aus Bambus. Ich habe in diesem ersten Sommer seines Lebens so oft darauf geschaut, dass ich ein Aquarell davon gemalt habe, das meine Frau später gerahmt und an unsere Schlafzimmerwand gehängt hat, neben meiner Bettseite. Lange Zeit war es das Erste, was ich erblickte, wenn ich morgens aufwachte. Sie meinte es als Kompliment, aber ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, ob es nicht eine Ermahnung war: Vergiss den Jungen nicht.
Jetzt war er zwölf, wir waren wieder am Meer, das erste Mal ohne ihn. Auch der Sessel war fort. Am ersten Morgen wachte ich vor allen anderen auf und kletterte nackt die Granitfelsen zum Meer hinunter, um zu schwimmen. Die See war rau, als wir dorthin gefahren waren, und es war schwer, ins Wasser zu kommen, und ebenso schwer, wieder herauszuklettern. Hinterher stieg ich zurück zur Außendusche hoch und spülte mir das Salz ab, zog mich an, machte Kaffee, las die Zeitung und sah auf das Meer. Ich war ganz bei mir. Es fühlte sich paradiesisch an. Ich dachte nicht einmal an die Stunden, die ich in jenem Raum mit dem Jungen vor zwölf Jahren verbracht hatte. Ich bin froh, dass es immer noch einen Ort gibt, eine gewisse Zuflucht, an der mich meine Sorge um ihn nicht erreicht, wo ich ihn zumindest für einen Augenblick mal vergessen kann. Aber immer, wenn das geschieht, vermisse ich ihn auch, und dann ist er immer da, so wie jetzt, wenn ich mich an jene Küche am Meer erinnere. Was für ein Luxus, der Luxus, keine Sorgen zu haben! Mal nicht an Walker denken oder über Walker nachdenken oder Walker ignorieren zu müssen. Ohne ihn konnte ich für kurze Zeit alles so tun, wie ich es einmal getan hatte, in voller Absicht und bewussten Schritten, so wie man es tun kann, wenn man kein behindertes Kind hat.
Aber selbst dort fand Walker mich. An jenem Morgen 1 , als ich vom Schwimmen im Meer zurückgekehrt war und durchs Haus wanderte, begann ich einen Katalog von einer Ausstellung mit Gemälden Edward Hoppers durchzublättern. Hopper hatte nicht weit entfernt in Gloucester gelebt, und einige seiner berühmtesten Gemälde verdanken sich dem hiesigen strengen und schonungslosen Licht. 1947 fragte Mrs. Frank B. Davidson Hopper, was er von abstrakter Kunst hielt. Der große figurative Maler war nicht beeindruckt. »Es gibt eine Malerschule, die sich abstrakt oder nicht-gegenständlich nennt«, sagte er zu Mrs Davidson, »sich zum großen Teil aus dem Werk von Paul Cézanne herleitet und den Versuch unternimmt, das › reine Gemälde ‹ herzustellen – das heißt, eine Kunst, die Form, Farbe und den Entwurf um ihrer selbst willen und unabhängig von der Erfahrung des Menschen mit seinem Leben und seiner Verbindung mit der Natur einsetzt. Ich glaube nicht, dass ein Mensch ein solches Ziel erreichen kann. Ob wir es nun wollen oder nicht, wir sind alle erdgebunden durch unsere Erfahrung des Lebens und die Reaktionen unseres Verstandes, Herzens und Auges, und unsere Empfindungen bestehen keineswegs nur aus Form, Farbe und Entwurf. Wir würden eine Menge weglassen, das ich der Darstellung in der Malerei für wert erachte und das nicht von der Literatur ausgedrückt werden kann.«
Als ich an jenem Morgen diesen Abschnitt das erste Mal las – und es war immer noch vorm Frühstück – dachte ich, das ist genau mein Fehler bei Walker. Ich versuche, in ihm Dinge zu sehen, die gar nicht da sind, Ereignisse »unabhängig vom Leben und meiner Verbindung mit der Natur«. Wir waren die Abstrakten, was Walker anbelangte, und bestanden darauf, dass da ein Gemälde war, eine zusammenhängende Idee, wenn auch in radikaler Form, die niemand anders sehen konnte. Ich las diesen Abschnitt immer wieder, und je häufiger ich ihn las, desto mehr begann
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