Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
ich zu denken, dass der Unterschied zwischen dem, was Hopper auf der Leinwand zu tun versuchte, und dem, was wir angesichts von Walkers Unbeschriebenheit zu tun versuchten, gar nicht so groß war: Wir beschrieben, was wir sahen, und versuchten dann, zu entscheiden, was es bedeutete, was wir dabei fühlten und ob das realistisch war.
So kann eine ganze Stunde vergehen, ausgelöst von dem bloßen Gedanken an ihn.
Zu Hause hatte Walker bei seinen Spaziergängen mit Olga durch die Nachbarschaft einen ganzen Haufen Bekannte gewonnen. Selbst heute noch kommen Fremde auf mich zu und sagen: »Sie sind Walkers Vater.« Dann spüre ich seine Brillanz. Er war auch stets gut angezogen. Zu seinem Geburtstag kaufte ihm Olga die neuesten Sachen bei Gap, und manchmal machte ich mich auch selbst auf und kaufte ihm etwas. Ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr ich mich gefreut habe, als ich ihm sein erstes T-Shirt für große Jungen gekauft habe: Er sah so klasse und cool aus. Ich kaufte ihm einen orangen Skater-Pullover, ich kaufte ihm seine ersten Jeans, seine ersten Khakihosen, seine ersten Turnschuhe, seine erste Baseballkappe, eine Fliegerjacke mit Pelzkragen und überall, wo ich auf Reisen war, ein T-Shirt. Ich kaufte ihm ein Unterhemd, das kleiner war als meine Hand, eine Sonnenbrille, die er verabscheute. Ein Hut und Handschuhe (die er kraftvoll beiseitefegte), Socken, Indianergürtel, die mit Perlen bestickt waren. All die Embleme eines normalen heranwachsenden Jungen. Meine Sehnsucht, nicht seine. Eines Tages werde ich ihn mit meinem Vater und meinem Bruder zusammen mitnehmen, um ihm seine erste Krawatte zu kaufen. Ich weiß, dass es müßig ist: Das Lätzchen, das er trägt, um seinen Sabber aufzufangen, wird sie ohnehin verdecken. Aber das ist vielleicht das einzige männliche Ritual, das wir mit ihm teilen können.
Aus einem Notizbuch, das ich geführt habe:
27. Dezember 1997. Wir müssen noch mehr auf Walkers Ernährung achten. Er hatte einen Termin beim Arzt, bevor wir zu Weihnachten nach Pennsylvania aufgebrochen sind, und unser Kinderarzt war überrascht, dass er immer noch nicht laufen kann oder laufen will, nicht krabbelt, nicht versucht, Gegenstände in die Hand zu nehmen und sich in den Mund zu stecken, sich selbst füttert oder irgendetwas schluckt, das Stückchen enthält, oder Klötze aufeinander stapelt. Er war noch entsetzter, dass Walker nach wie vor nur 10 Kilo wiegt – die Hälfte oder höchstens zwei Drittel von dem, was er in diesem Alter, mit eineinhalb Jahren, wiegen sollte. Die neue Sorge ist, dass seine Unfähigkeit zuzunehmen, auch seine geistige Entwicklung beeinträchtigt, wie auch immer die sein mag. Also habe ich eine ganze Menge Zeit damit verbracht, herauszufinden, wie man Eierpudding zubereitet, was einer Pflegerin zufolge dazu führen würde, dass er anständig zunähme. Aber er hat eine schlimme Erkältung und Schluckschwierigkeiten, was bedeutet, dass er nach einer Mahlzeit in der Hälfte der Fälle alles wieder erbricht. Ich sehe schon eine PEG -Sonde auf ihn und mich zukommen. Am meisten ängstige ich mich jedoch um seine Einsamkeit. In letzter Zeit habe ich angefangen zu denken, dass er es auch registriert – dass er plötzlich wahrnimmt, wenn auch unbewusst, dass er anders ist als andere.
Ich breche, glaube ich, gleich in Tränen aus, und so lasse ich es lieber.
Als Walker drei Jahre alt war, umfasste sein Krankenblatt bereits zehn Seiten.
Ein ganzes Muster von Erkrankungen hatte sich früh herausgebildet: schwache Brust, Lungenentzündung, Verstopfung, endlose Ohrenschmerzen, schuppige Haut. Er schlief nicht. Wir fanden ihn umgänglich, aber er weinte die Hälfte der Zeit.
Beim Arzt konnte man zumindest Fragen stellen. Wenn man dann nach Hause kam, war es, als würde man einen langen Flur betreten, in dem die Lichter nicht angingen. Meine Frau sagte, sie habe das Gefühl, als wäre ein »schalldichter Vorhang über uns gefallen.« Natürlich fällt bei jeder Krise mit jedem Kind so ein Vorhang: Der Fokus verengt sich, man hat nur noch ein Ziel vor Augen. Der Unterschied bei Walker war, dass dieser Vorhang permanent da war. Vor Walker hatte die Zukunft ausgesehen wie eine Folge von kleinen Herausforderungen, die man alle bewältigen konnte, was schließlich zu einem (möglicherweise schalem) Ruhm führte. Nachdem Walker geboren worden war, wirkte die Zukunft monolithisch, traurig, voller Verpflichtungen bis zu unserem Tod – was nur die düstere Frage aufwarf, was dann
Weitere Kostenlose Bücher