Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Grobmotorik zu konzentrieren, sagten die Experten: Wenn er laufen lernte, dann konnte er zumindest seine Umgebung wechseln, sich auf diese Weise stimulieren und wäre deshalb für den Rest seines Lebens weniger abhängig von anderen. Das war die Wendung: für den Rest seines Lebens. Um es ihm beizubringen, wählten wir eine kostspielige und radikale Therapie, drei Mal pro Woche über zwei Jahre hinweg. Die MEDEK -Methode brachte es mit sich, dass er kopfunter aufgehängt und seine Beine in unnatürliche Positionen gebracht wurden. Die einzige MEDEK -Spezialistin in der Stadt, Esther Fink, wohnte fünfundvierzig Autominuten entfernt, in einem Viertel im Norden Torontos, das eine große Chassidim-Bevölkerung aufwies, die selbst eine erhebliche Zahl an behinderten Kindern besaß. Es war eine andere Welt, und plötzlich war ich ein Teil davon.
Walker hasste diese Sitzungen und begann zu schreien, sobald wir auf Esther Finks Einfahrt bogen, aber er lernte laufen. Zumindest das konnte er. Er konnte das sein, was sein Name benannte. Vielleicht waren wir deshalb so entschlossen.
Das Seltsame war, dass diese ganze Dunkelheit schon durch einige wenige Lichtpunkte erträglicher wurde. Eine einzige Reaktion war bemerkenswert, ein Lächeln oder eine seiner fröhlichen Touren verzauberten mir den Nachmittag.
Ich weiß noch, wie stolz ich war, als er den ersten Tag zur Schule ging. Im Alter von drei Jahren begann er, zu »Play ’n’ Learn« zu gehen, eine Tagesstätte, in der normale und behinderte Kinder integriert waren. Ich konnte die Eltern der entwicklungsverzögerten Kinder auf dem Schulparkplatz ausmachen, als ich Walker hinbrachte: Sie waren diejenigen, die aussahen, als wäre auf der Rückbank in ihrem Auto gerade eine Bombe gezündet worden. Sie hungerten nach Kontakt und sehnten sich danach, die Wahrheit sagen zu können. Eines Nachmittags stieß ich auf eine Frau, deren schwerbehinderte vierzehnjährige Tochter vor zwei Jahren gestorben war. »Wissen Sie, was das Erste war, was ich auf dem Rückweg von der Beerdigung getan habe?«, sagte sie. »Ich sagte zu meinem Mann: › Halt mal an. Ich will Sex. ‹ « Später ließ sie sich von ihm scheiden.
Aus Walkers erstem »Play ’n’ Learn«-Bericht:
Walker erforscht gern Gegenstände, indem er mit ihnen hantiert. Er lässt Gegenstände zwischen seinen Fingern hindurch gleiten, während er sie betrachtet, und hat auch begonnen, Objekte gegeneinander zu schlagen.
Die Theorie von »Play ’n’ Learn« besagt, dass die Integration von normalen und behinderten Kindern dazu führt, dass die normalen sensibilisiert und die behinderten inspiriert würden. Die Schule rühmte sich eines Vollzeittherapeuten für sinnliche Integration ( CFC -Kinder werden oft von ihren Sinneseindrücken überwältigt und müssen an sie herangeführt werden, etwa daran, dass jemand ihre Haut berührt) und eines Beschäftigungstherapeuten, um elementare Grundlagen des Gemeinschaftslebens zu trainieren, zum Beispiel, dass man sich zum Mittagessen mit anderen zusammen setzt. Zu meiner Überraschung wurde Walker allmählich mutiger, kontaktfreudiger. Das Personal (nur Frauen) waren engagierte Lehrerinnen für behinderte Kinder, Optimistinnen, die in allem ein hoffnungsvolles Zeichen sahen.
Typischerweise produziert er offene Vokale und Konsonant-Vokal-Verknüpfungen – dazu kann jeder der Laute [b, n, d, l, y] gehören, zusammen mit einem »ah«. Obwohl er keine Interaktion beginnt, hat er es gern, wenn seine Gruppenleiter um ihn herum sind. Wenn eine Gruppenleiterin seine Hand hält, wirkt er zufrieden.
Es war diese letzte Zeile, die mich so berührte. Er brauchte jemanden, der ihn erdete.
Die Regierung der Provinz Ontario, die unbedingt demonstrieren wollte, wie ernst sie es mit der Bildung und Erziehung nahm, bestand darauf, dass alle Kinder benotet wurden. Noten bedeuten Normen. Als Walker das erste Mal von »Play ’n’ Learn« mit einem Zeugnis im Rucksack nach Hause kam, erfuhren wir, dass er in Mathe Fortschritte machte. In Mathe! Und auch noch Fortschritte! Wir lachten wie verrückt, dann küssten wir ihn und sagten: »Gut gemacht, Walker! Zwei und zwei sind vier!« Lange Zeit wiederholten wir das, wir hielten daran fest wie an einer seltenen Köstlichkeit. Nicht dass wir glaubten, dass Walker Mathe konnte, so wie wir es definierten. Aber es war eine Geschichte, die er uns geschenkt hatte und die jeder würdigen konnte, ein Detail seines Lebens, das es hinter dem schalldichten
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