Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Vorhang hervor geschafft hatte.
Was ich nicht sagen konnte, war, was die feste Routine ihm bedeutete. Wusste er, dass er »malte«, wenn die Lehrerin ihm die Hände führte? Er hatte einen Freund, Jeremy, aber wusste er, was ein Freund war? Er saß mit den anderen Kindern zusammen am Tisch für einen Snack – eine Zeitspanne namens Snack, ich mochte das –, aber spürte er das allgemeine Summen? Was ging hinter dieser verdickten Haut vor sich, in jenem geschwollenen Herzen? Es war mir egal, wenn er niemals einen Ball werfen, seine Schwester quälen, neben mir Ski laufen, einen Witz erzählen oder mit einem Mädchen ausgehen konnte (obwohl ich es toll fände, wenn er es täte). Was mich beschäftigte, war, ob er ein Gefühl für sich selbst besaß, ein Innenleben. Manchmal schien das die drängendste Frage von allen zu sein.
Von dem Tag an, an dem er als Baby aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war, zwei Tage alt, waren die Nächte hart. Wenn Johanna damit dran war, ihn ins Bett zu bringen und bei ihm zu schlafen, fuhr ich Olga nach Hause. In der nächsten Nacht wechselten wir uns ab. Unsere Nächte, in denen wir uns nicht um Walker kümmern mussten, waren große Ereignisse: Ich plante meine ganze Woche um sie herum, auch wenn solche Pläne sehr unzuverlässig waren. (Wenn einer von uns wegen der Arbeit verreisen musste – und das war etwas, was jeder von uns mindestens ein paar Tage im Monat tat – dann übernahm der andere Walker allein, Nacht für Nacht. Das war erschöpfend, aber es führte auch dazu, dass wir die Nächte, in denen er schlief, genossen: Sie fühlten sich an wie wunderschöne und unerwartete Geschenke. Vier Stunden am Stück waren für uns wie für jemand anders eine volle Nacht Schlaf.) Nachdem ich Olga an ihrer Wohnung abgesetzt hatte, hatte ich frei. Ich konnte etwas trinken oder spazieren gehen. Meistens schlüpfte ich still und leise ins Haus zurück, drehte das schwere Schloss der Haustür ganz vorsichtig mit der Hand, ließ meine Schuhe an der Tür stehen, hoffte ins Bett zu kommen, ohne ihn zu wecken, ohne zu hören, wie er weinte oder sich den Kopf anschlug. Er hatte ein Händchen dafür, sich in meine Gedanken zu stehlen, wenn ich gerade ein Buch aufschlug oder einen Brief zu schreiben begann, und wenn ich ihn einmal gehört hatte, war ich in Beschlag genommen. Ich konnte das Geräusch seiner ununterbrochenen Qual nicht ertragen. Aber wenn er schlief und ich wach bleiben konnte, konnte ich lesen, und das tat ich geradezu gierig. Ich habe nie Worte, Bücher, Zeit und das Leben meiner Gedanken mehr genossen als in jenen gestohlenen tiefen Nächten. Dante, Die Geschichte der Geistigen Behinderung, Bücher über Taubheit und übers Stottern, Romane über Cowboys und Halunken, Tagebücher von Diplomaten, Casanovas Erinnerungen. (Casanova behauptete, dass er erst mit fünf Jahren zu sprechen begonnen habe, und dann, als er es tat, habe er auf einem Vaporetto gelegen und sei den Canal Grande von Venedig entlanggefahren. »Die Bäume bewegen sich!«, sagte er, wenn ich es recht in Erinnerung habe. Seine Eltern, statt erstaunt darüber zu sein, dass ihr zurück gebliebener Sohn endlich gesprochen hatte, schimpften ihn sofort einen Idioten. »Das Boot bewegt sich!«, riefen sie. Woraufhin Casanova seinen zweiten Satz sprach: »Nun, dann ist es auch möglich, dass die Erde um die Sonne kreist!« Ich gebe zu, dass es Tage gab, an denen ich auf einen ähnlichen Ausbruch von Walker hoffte. Auf jeden Fall sammelte ich Geschichten.) Ich las Chesterfields Briefe an seinen Sohn und Chestertons langweilige Detektivromane und alles, was mich weit weg trug: Elmore Leonard, Chandler, Roth und Updike, Bücher über Väter und übers Sammeln und Obsessionen, Essays über alle möglichen Formen des Innenlebens, über das Leben von Künstlern und Millionären und natürlich jeden vorhandenen wissenschaftlichen Aufsatz über CFC . Und Zeitungen. Eines meiner Lieblingsfotos von Walker aus jenen Tagen zeigt ihn, wie er auf meinem Schoß in einem Liegestuhl auf der Veranda des Häuschens eines Freundes nördlich von Toronto sitzt, neben einem stillen See. Ich lese die Zeitung, halte sie geöffnet und runzele die Stirn. Walker lehnt sich zurück an meine Brust und lacht wie verrückt. Damals waren wir beide glücklich.
Wir fantasierten über Ferien, Johanna und ich, aber wegzukommen war kompliziert. Er war drei Jahre alt, bevor wir Hayley und ihn über Nacht der Obhut von Olga überließen. Aber wir taten
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