Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Zeit bedrängt, wäre es denn zu viel verlangt, wenn er (oder sie) die Scheißmilch mal wegräumte?
Vielleicht lag es ja auch an uns und nicht an ihm: Das dachte ich oft. Es gab andere Familien – ich weiß, dass sie existierten, weil ich auf Websites über sie gelesen hatte –, die anscheinend gut zurechtkamen. Wir waren einmal großartig gewesen, vor dem Jungen. Ich vermisste diese Zeiten.
Aber: Ich liebe meine Frau immer noch. Ich bewundere immer noch ihren Körper, ihre braune Haut, ich will sie immer noch beschützen. Sie bringt mich immer noch zum Lachen, kann großartig Geschichten erzählen, kann sich an den Text von jedem Song erinnern, den sie je gehört hat, kann einen Film Szene für Szene nacherzählen und ist zu tiefer und anhaltender Güte fähig. Für Hayley ist sie nach wie vor eine wunderbare Mutter. Ich kann sie immer noch zum Lachen bringen wie kein anderer, kann immer noch die ganz besonderen und intimen Nischen erreichen, die nur ein Mann und eine Frau kennen. Wir liegen im Bett, wenn wir können, und machen wie verrückt Wortspiele. Ich kann hören, wie ihre Gedanken verrückt spielen, um mir eine Nasenlänge voraus zu sein. Ich missgönne ihr ihre Zeit mit der Zeitung, aber nicht ihre Liebe für andere, ich vergebe ihr die dunkle Angst, die sie bei so vielen Gelegenheiten empfunden hat, ihren Kampf, ihren gebrochenen Jungen zu lieben. Ich bin immer bereit gewesen, um einzuschreiten und ihr durch ihren schwarzen Selbsthass hindurchzuhelfen. In dieser Weise hat der Junge uns auch manchmal zu einer neuen Großzügigkeit verholfen. Sie haben ja gar keine Vorstellung, wie viel Freude Sie einem anderen mit den Worten: Das geht schon, ich bringe ihn zum Arzt bereiten können.
Ein Beispiel: Eines Abends gehen wir auf eine Party. Es ist Weihnachtszeit, und es ist eine Büroparty in irgendeiner dunklen Bar in einer dunklen Ecke der Stadt. Walker ist noch klein, nicht mehr als drei Jahre alt. Ich sitze an einer Seite des Raumes an die Wand gelehnt und höre mit halbem Ohr einem Ehepaar zu, das ich kenne und das ausgerechnet über religiösen Fundamentalismus redet. Aber in Wirklichkeit beobachte ich meine Frau – das geheime Hobby so vieler Ehemänner. Ich kann mich an diesen Moment erinnern, weil ich sehen kann, wie meine Frau für einen Augenblick aus diesem Kokon endloser Verpflichtungen herauskommt, von ihrem endlosen Leben zu Hause mit einem behinderten Kind. Sie ist unter unseren Freunden berühmt für die Unverwüstlichkeit, die sie angesichts dieser Härten demonstriert, aber ich weiß, wie viel sie das kostet. Sie kauert an der Bar neben einem Mann, den ich kenne, einem alten Freund von uns, sie lacht laut auf, und ich kann mich überhaupt nicht mehr daran erinnern, wann sie das das letzte Mal getan hat, zumindest in meiner Gesellschaft. Sie wirken intim, wie sie da sitzen: Ihre Schultern berühren sich, sie trinken das Gleiche, Wodka mit Tonic. Ich weiß, dass er sie ziemlich toll findet, so sehr, dass ich ihn einmal gefragt habe – ich muss zugeben, dass ich schon einiges getrunken hatte –, ob er in meine Frau verliebt sei.
»Ja«, sagte er. »Bin ich.«
»Auf eine Weise, die problematisch ist?«, sagte ich.
»Nein«, sagte er. »Es ist kein Problem.«
»Na gut, dann«, sagte ich. »Drücks weg.«
Und das ist der Punkt: Es macht mir wirklich nichts aus. Denn da ist ja vor allem in ihrer Privatsphäre Raum für meine eigene ramponierte Privatsphäre. Und wie kann ich ihr diesen Moment der Freundschaft, der Freiheit, ja des Flirtens, diese zarte Intimität missgönnen, nach all dem, was sie durchgemacht hat, wie kann ich ihr diese elementare Aufmerksamkeit missgönnen, diesen einfach bewundernden Blick von jemand Neuem und Frischem, jemand, mit dem sie nicht um jeden Augenblick der Erholung kämpfen muss? In seiner Gesellschaft hört sie keinen Augenblick auf zu lächeln, und ich bin selbst überrascht, dass es mich freut, das zu sehen. Ich bin sicher, sie hat ihre Geheimnisse, und ich bin bereit, sie ihr zu lassen, ihr ganz allein. Ich bin einmal auf einen Blog im Internet gestoßen, der von dem Vater eines behinderten Kindes geschrieben worden war und solche Themen behandelte. »Ein behindertes Kind lehrt einen, seine eigenen Regeln aufzustellen«, schrieb er. Ich sitze bei einem Drink und frage mich, was sie tut, wenn ich nicht da bin. Ich weiß, dass sie sich das Gleiche über mich fragt.
Meistens verzeihen wir einander. Walker hat uns beigebracht, das zu tun.
25. Januar
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