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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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2005
    Mein erster Besuch in den Stewart Homes, einer unabhängigen Organisation für betreutes Wohnen, die profitorientiert arbeitet und die vielleicht – vielleicht, mit Hilfe unseres Unterstützerteams – vielleicht einen Platz für Walker hat.
    Sie wurde vor dreißig Jahren von Alan Stewart gegründet, der selbst ein Pflegevater gewesen war.
    An der Tür hatte ich richtig Angst. Ich weiß, wie es ist, ein Zimmer voller behinderter Kinder zu betreten: Ich war immer erstaunt über die Symphonie von Jauchzern und Geheule, die mich überrollte, wenn ich Walker in der Schule besuchte. Aber dies ist anders: Dies ist ihr Territorium, und ich bin derjenige, der sich anpassen muss. Ich betrat einen Raum mit fünf Kindern, aber jedes war von den anderen so isoliert, so tief in sich versunken, dass sie sich genauso gut auch in verschiedenen Galaxien hätten befinden können. Bestürzend traurig.
    In jedem Haus sind ungefähr acht Kinder – die Häuser sind im Bungalow-Stil gebaut, geräumig genug für die Pumpen und Rollstühle, Hebevorrichtungen und Spielzeug, die Böden sind nahtlos, ohne Teppich, für Rollstühle ausgelegt. Die Kinder sind verwachsen oder verdreht, aber selbstbestimmt: Dies ist ihr Haus, ein Zufluchtsort, wo sie keine Kuriositäten mehr sind. Die Schule ist zwanzig Minuten mit dem Bus entfernt, der Arzt in der Nähe macht Hausbesuche, es gibt ein gutes Krankenhaus, eine Krankenschwester, einen Psychiater im Bereitschaftsdienst. Etwas, das Johanna nicht mag, ist der Geruch dieses Ortes, ein vager Moschusgeruch mit einem Hauch Menschheit und Badezimmer.
    Es gibt natürlich derzeit keinen Platz für Walker. »Manchmal gibt es unvorhersehbare Lücken«, sagt Diane Doucette, die Direktorin, zu uns.
    Ich glaube, sie meint, dass Kinder sterben. Ich warte sehr gern.
    8. April 2005
    Im Büro des Sonderpflege-Teams. Sieben Jahre, nachdem ich das erste Mal das Thema angeschnitten habe, dass Außenstehende uns helfen könnten, hat Minda Latowsky einen Platz für Walker gefunden. Er befindet sich am Rande Torontos in Pickering, vierzig Minuten mit dem Auto entfernt.
    Dort gibt es schon zwei Kinder, die selbstständig laufen können: Kenny, 13, ein groß gewachsener, dünner Junge, der, weil er beinahe ertrunken ist, Gehirnschäden davongetragen hat, aber verstehen und sich verständlich machen kann, indem er mit den Armen rudert und Laute ausstößt. Und Chantal, winzig für eine Achtjährige, die aber spricht und versteht. Kenny wird mit Walker das Zimmer teilen – eine Sache für große Jungen und schrecklich aufregend. Der übliche Anfang besteht aus zwei bis vier Testbesuchen, bei denen Olga über Nacht im neuen Haus bleibt, um den anderen Mitgliedern des Personals zu zeigen, was bei Walker alles zu tun ist, während Johanna und ich bei der Arbeit sind. »Dann der Einzug«, sagt Minda. Dann zwei Wochen keine Besuche, damit er sich eingewöhnen kann.
    »Es wird Monate dauern, bis Sie merken, dass Sie einfach eine Kaffeetasse hinstellen können, ohne befürchten zu müssen, dass Walker sie vom Tisch fegt«, versichert mir Minda. »Aber da wird er schon oft bei Ihnen zu Besuch gewesen sein.« Johanna scheint sich abgefunden zu haben oder zumindest von unserer schon seit Langem geplanten Entscheidung quasi benommen. Aber ich bin ein Wrack.
    Ich habe das Gefühl, als würde die Form, die er meinem Leben gegeben hat, das umfassende Schicksal, wegschmelzen. Wofür? Damit ich selbst es bequemer habe? Weil es eine perfekte Lösung nicht gibt? Wenn ich an dieses Haus ohne ihn denke, wird mein Körper zu einer Höhle.
    Als der Tag von Walkers Umzug in dieses Haus näher rückte – der 25. Juni 2005, am Ende des Schuljahrs – versank ich in etwas, das ich jetzt als ein Meer des Kummers erkenne. Ich ging zum Arzt und klagte über Magenkrämpfe: Er konnte nichts finden. Kummer – C. S. Lewis sprach vom »Vorhang des Schweigens« – war wie ein Leichentuch, das mich von den anderen Lebenden trennte. Es schien mir ganz unmöglich, dass irgendjemand außer uns unsere Not verstand: Wenn sie uns nicht für Monster hielten, dann mussten sie denken, dass wir närrisch waren. Manchmal ging ich an den Abenden, wenn ich nicht dran war, Walker ins Bett zu bringen, in unserer Nachbarschaft in Bars, aber dort trank ich nur etwas, setzte mich irgendwo hin und blieb allein, lauschte den Gesprächen und versuchte, ein Bruchstück Normalität mitzukriegen. Ich hoffte, jemand würde mit mir reden – Gott sei Dank tat es nie jemand –,

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