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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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sie trug, wenn der Winter uns im Haus frösteln ließ. Meine Ehefrau , dieser altmodische Begriff, die Mutter meiner Kinder, die Mutter Walkers. (Da war wieder diese Bitterkeit. Sie wollte unbedingt ein zweites Kind . Mir ist schon klar, dass ich bei der Zeugung dabei war, aber das hielt mich nicht davon ab, dem Körper, der diesen Körper auf die Welt gebracht hatte, die Schuld zu geben.) Johanna sah mich aus der gleichen gedemütigten Distanz: Sie arbeitete zu Hause, während ich das nicht tat. Ich hatte jeden Tag die Möglichkeit, mich zu entziehen. Sie konnte der Last nie entgehen. »Sie macht alles«, hörte ich einmal einen Freund bei einer Cocktailparty sagen, nachdem jemand gefragt hatte, wie wir das alles schaffen. Ich ärgerte mich über diese Meinung, weil ich wusste, dass es so nicht stimmte: Johanna war fast immer da, aber weil sie alles so tief empfand, überwältigte eine Phase tiefen Schmerzes, der Krankheit oder des Unglücks bei Walker sie oft mit Trauer, und dann konnte diese Trauer sie völlig lähmen. In solchen Phasen hing alles von meiner bodenständigeren Haltung ab, meiner dickköpfigeren Art.
    Manchmal war ich zu müde, um morgens hallo zu ihr zu sagen, und oft war ich auch schlecht gelaunt – sie war wie jemand aus dem Büro, den man auf der Straße trifft, ein Nicken, hallo, ein Lächeln und dann geht man wieder weiter. (»Guten Morgen«, sagte sie, während ich in die Küche stolperte. Ich grunzte als Antwort. »Guten Morgen«, sagte sie dann noch mal.) Ich liebte sie, aber es war schwer, die zusätzlichen Aufmerksamkeiten aufzubringen, die gelegentlichen kleinen Liebesdienste und Gefälligkeiten, die eine Ehe zusammenhalten, die halten soll. Ich sah sie, uns, mehr und mehr aus der Distanz, entfernt: Es gibt schlimmere Arrangements, aber dieses schien sich nie zu ändern.
    Die Verhandlungen wegen Walker waren endlos und sind es immer noch. »Kannst du Walker zu seinem Genetik-/Zahnarzt-/Ernährungsberater-/Physiotherapie-/was-auch-immer-Termin am Mittwoch bringen?«, fragt meine Frau. Sie ist organisiert und direkt. Ich ziehe ein etwas neutralere Form vor: »Walker hat morgen einen Genetik-/Zahnarzt-/Ernährungsberater-/Physiotherapie-/was-auch-immer-Termin«, sage ich und lasse meine Frage unausgesprochen.
    Wir streiten uns darüber, wer ihn bringen soll, wer ihn letztes Mal gebracht hat, wer mehr oder weniger Arbeit hat, wer einen Abgabetermin hat, wer am meisten beiträgt. Gespräche über Geld sind radioaktiv. Es scheint unmöglich zu sein, dass Johanna noch etwas mehr dazuverdient, aber ich weiß eben auch nicht, wo ich bei mir noch mehr herausholen kann, um noch mehr auszuhelfen. Wir haben unsere privaten Augenblicke, unsere intimen Momente, aber sie sind so selten und so intensiv, dass sie wie Halluzinationen wirken. Niemand kann sagen, wir seien nicht effizient.
    Theoretisch kann es dazu führen, dass eine Familie noch enger zusammenrückt, wenn man ein behindertes Kind hat – ein gemeinsames Projekt, eine geteilte Herausforderung, ein Band. In der Praxis nimmt uns Walker jegliche Privatsphäre, die wir einmal hatten – und wir sind eigenbrötlerische Menschen, introvertiert, Leser und Denker, die vor sich hin grübeln und brüten. Statt uns zusammenzubringen, treibt Walker uns auseinander, sodass wir weniger Privatheit haben und gleichzeitig noch viel mehr auf uns selbst zurückgeworfen sind, voll verzweifelter Sehnsucht nach einem Rückzugsort, an dem es keine Unterbrechungen und keine bösen Überraschungen gibt. Ich frage mich oft besorgt, ob ich je wieder ein ganzes Buch werde durchlesen können, meine Konzentration scheint für immer gestört zu sein. Ich habe schon vor langer Zeit allen Plänen abgeschworen, die ich einmal hatte, ein Wochenend- oder Ferienhäuschen zu besitzen. Das ist alles, was wir tun können, um es zu den medizinischen Terminen zu schaffen.
    Wochen vergehen ohne echten Kontakt zwischen uns beiden – und dann streiten wir uns, vielleicht um einen Kontakt zu erzwingen. Die Folgen von Walkers fordernder Gegenwart ändern sich nicht, die Haushaltsstigmata eines behinderten Kindes: die kaputten Jalousien, an denen er minutenlang mit seinen Fingern herumspielt, die endlosen Haufen schmutziger Wäsche, die sich wie Dschungelpflanzen selbst vermehren, seine Zahnbürste in der Küchenschublade, die Lawine von Mittelchen, Salben, Spritzen und Fläschchen, die nur von einer Schranktür aufgehalten wird, einfach das Ganze. Bei diesem Chaos, das uns die ganze

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