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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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aber ich wollte einen Zipfel von meinem alten, sorglosen Leben wieder haben.
    Manchmal ging ich sogar in Strip-Bars. Das tat ich abends, auf dem Rückweg nach Hause, wenn ich Olga zurück zu ihrer Wohnung gefahren hatte. Ich vermute, dass ich etwas fühlen wollte, irgendetwas anderes als den Verlust Walkers, wie auch immer vorhersehbar und reptilienartig – und meine Lust, an ihrem primitivsten Kern, war so etwas. In einer Strip-Bar kann man für eine Weile neben seinen eigenen Begierden sitzen, den verlässlichen und den überraschenden, und sich an die alten Gewohnheiten dieses Fremden erinnern, der man inzwischen geworden ist.
    Seine Fremdartigkeit vermisste ich am meisten. Bevor Walker da war, hatte ich mir immer vorgestellt, dass die Eltern eines behinderten, entstellten Kindes mit einem Gefühl der Angst in die Öffentlichkeit gingen: dass die Aussicht, angeschaut, angestarrt und womöglich ausgelacht zu werden, eine Qual sein müsste. Aber die Wahrheit ist, dass Walker es liebte, in seiner Karre ausgefahren zu werden, und auch ich war gern auf der Straße mit ihm – frische Luft auf dem Boulevard schnappen und mit ihm über das plaudern, was man so zu sehen bekam. »Guck mal da, mein Junge, da ist ein großer Hund. Und ein Mädchen, seine Besitzerin. Jetzt schau dir mal ihre große Pelzmütze an« – solche Sachen. Er musste dann lachen und wirkte oft neugierig – mein liebster Ausdruck auf seinem Gesicht. Die Leute beobachteten uns oft, konnten meist nicht anders, als auf Walkers plumpes Gesicht zu schauen, seine irgendwie leicht verschobenen Gesichtszüge, seinen sich krümmenden festen Körper. Sie konnten auf ganz unterschiedliche Art gucken. Da war dieses Blicken und dann schnell wieder Wegschauen: Das war das häufigste. Dann war das Schauen und Lächeln, um uns zu versichern, dass wir akzeptiert waren und keinem Stigma ausgesetzt. Manche Leute waren ganz offen erschrocken. Kinder starrten ungeniert, und einige Eltern sagten ihnen auch nicht, dass man das nicht tut. Ich muss zugeben, dass ich sie wie Tiere empfand, wie Köter auf der Straße.
    Manchmal stießen schwangere Frauen oder junge Frauen, die, wie ich vermutete, angefangen hatten, sich freudig vorzustellen, ein eigenes Kind zu haben, auf der Straße auf uns, Quasimodo und seinen murmelnden Hüter, die wir dort entlang taperten, und über ihre hübschen Gesichter huschte ein alarmierter Ausdruck. Dann musterten sie mein Gesicht, um zu sehen, ob es da schon einen Hinweis darauf gab, dass ich der Vater eines solchen Kindes wie Walker sein könnte: Ich konnte sehen, wie sie dachten, sie würden solch einen Vater schon im Vorfeld erkennen. Aber ich sehe eigentlich ganz normal aus, und der alarmierte Ausdruck kehrte wieder und blieb haften. Abweichung übt einen solchen Eindruck auf uns aus, weil sie absolut zufällig ist.
    Dieses Starren hatte mich immer gestört. Am schlimmsten in der Hinsicht waren Mädchen im Teenageralter, die nicht damit aufhören konnten, gleichzeitig zu hoffen und zu befürchten, dass die ganze Welt sie hingerissen betrachtete – Mädchen, die gleichzeitig auffallen und unauffällig sein wollten, eine janusköpfige Verhaltensweise, die Walker und mir einfach nicht möglich war. In einem Frühling, bei der Eröffnung der Baseball-Saison, nahm ich ihn mit zu einem Spiel der Toronto Blue Jays. Damals kam seine ganze Schule: dreißig verbogene und gebrochene Körper, piepend, jubelnd und krächzend in Rollstühlen und Karren, die hintereinander und im Gänsemarsch über eine Strecke von zwanzig Blocks durch die Innenstadt zogen.Das war auf jeden Fall eine Prozession, bei der jeder hinschaute.Wir trennten uns, als wir das Stadion erreichten, und ich schob meinen Jungen durch die Menge.
    Es war School Day oder Bat Day oder irgendeine unvorstellbare Kombination aus beiden, und das Stadion quoll von Teenagern über. Wieder und wieder geschah das immer gleiche Ritual: Irgendein großes dreizehnjähriges Mädchen in einem rosa oder blauen Top, einem weißen Minirock und Flip-Flops, die Anführerin einer kleinen Gang von drei immer kleineren Mädchen in exakt dem gleichen Outfit, erblickte Walker und mich, wie wir auf sie zu kamen. Die Anführerin beugte sich zu den anderen hinüber und flüsterte ihrer Schar etwas zu. Dann starrten sie uns alle an. Manchmal lachte eine auch. Häufiger noch bedeckten sie ihre Münder mit den Händen und taten so, als würden sie ihre Schockiertheit verbergen. Ich zog das offene Lachen ihrer

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