Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
können. Denn sie zu wollen und dann auch tatsächlich darum zu bitten, sind zwei verschiedene Dinge. Weil es bedeutet, dass man es allein einfach nicht mehr schafft. Wer will schon zugeben, dass man ein Kind hat und es nicht aufziehen kann?«
26. Februar 2006
Habe Walker heute abgeholt. Er scheint nicht eine, sondern zwei Freundinnen zu haben: Chantal, die wegen ihrer Skoliose jetzt einen Stützapparat trägt, und Krista Lee, ein bezauberndes vierzehnjähriges Mädchen im Rollstuhl, das Walker anbetet. Chantal ist dominanter und drängt sich stärker in Walkers Sphäre hinein. Krista Lee wartet, und so geht er zu ihr.
Katie, eine aus der Phalanx von Männern und Frauen, die in diesem Haus arbeiten, hat sogar einen Weg gefunden, Walker daran zu hindern, sich selbst zu schlagen, ohne auf den Kunststoffhelm zurückgreifen zu müssen, den er hasst – leere Pringles-Dosen, die mit Zungenspateln und Isolierband verstärkt und mit buntem Stoff bezogen sind. Die Enden sind innen mit Schaumstoffrüschen ausstaffiert. Diese Dosen kann man ihm über die Arme schieben, bis zu seinen Schultern: So kann er die Arme nicht beugen und seine Schläge gegen den eigenen Schädel richten. Nach Jahren des Elends Erleichterung in Form von Pappe, die ein paar Cent wert ist.
Ich schäme mich immer noch, wenn Leute fragen, warum sie Walker nicht mehr so oft sehen, ich kann nicht zugeben, dass er hauptsächlich dort lebt. Johanna ist da gelassener: Sie hat sich seinem Auszug widersetzt, aber nun, wo sie diesem Arrangement zugestimmt hat, steht sie auch ganz dahinter. »Ich habe das Gefühl, dass er jetzt auch anderen gehört, ebenso wie uns«, sagte sie neulich, als wir am Küchentisch saßen und genüsslich Zeitung lasen. (Dafür die Zeit zu haben, kommt mir immer noch so exotisch vor wie eine Reise nach Las Vegas.) Er lebt sich auf jeden Fall ein. Vor nicht allzu langer Zeit fuhren Olga und Johanna Walker wieder zurück nach »da oben«, wie ich es nenne, nach einem Wochenende hier zu Hause. Walker trat ein wie ein Derwisch, warf dabei einen Mülleimer um und begrub seinen Kopf zwischen den Brüsten von Trish, die bei ihm den Nachtdienst versah. Dann nahm er Johanna und Olga bei der Hand und brachte sie sanft, aber entschlossen zur Haustür. Er wollte, dass sie wieder fuhren. Seltsamer Ausbruch der Freiheit!
Er hat eine neue Dosierung für sein Risperidon und ein neues Medikament gegen Reflux, und er ist ausgeglichener. Aber seine emotionale Sicherheit ist es, die einen Sprung nach vorn gemacht hat. Als er nur in unserer Welt gelebt hat, ich bin sicher, hat er überall immer nur seine Einschränkungen gesehen. In seinem neuen Ferienhaus, wie ich es sehe, umgeben von seinesgleichen, ist er so fähig wie jeder andere. Ich hoffe, das ist das Geschenk, das er von uns bekommen hat dafür, dass wir ihn aufgegeben haben.
An unserem Tiefpunkt haben wir alles ausprobiert, um uns besser zu fühlen. Ich erinnere mich, wie ich eines Tages nach Hause kam und meine Frau vorfand, die Wein trank und Tecca und Cathrin, den Freundinnen, die jeden wackeligen Schritt Walkers mitgemacht hatten, eine ausführliche Geschichte über ihn erzählte.
»Ich war bei meiner Chiropraktikerin Anita«, erzählte Johanna, »und am Ende unserer Sitzung sagte sie: › Ich habe eine Idee, was Walker anbelangt. Das ist ziemlich abgefahren – das war Anitas Wort dafür, abgefahren –, aber ich frage mich, ob du ihn nicht zu einem Schamanen bringen könntest. Einem indianischen Schamanen. ‹ Und ich war so fixiert auf Walker, dass ich sagte: › Sicher. ‹ Und so haben wir uns zwei Wochen später aufgemacht, um den Schamanen zu treffen.«
»Was, ihr drei zusammen?«, sagte Cathrin.
»Ja. Wir sind zu einem indianischen Heilungszentrum in einem unglaublich nichtssagenden Gebäude gefahren. Es sah aus wie ein Fitness-Center – billiger Bodenbelag, imitierte Holzverkleidung. Ich hatte Angst, Walker könnte das Karma des Schamanen zerstören, indem er ausflippte. Aber als der Schamane hereinkam, wurde er ganz ruhig. Das war wirklich seltsam. Er schien etwas Frieden zu finden.
Mitten auf diesem Kellerfußboden lag eine Decke. Eine Frau saß auf dieser Decke. Dann war da ein Dolmetscher, ein Mann, der erklärte, was die Schamanin meinte. Man musste ihr etwas Geld und etwas Tabak als Opfergabe geben. Also gab ich ihr fünfzig Dollar und legte eine Packung Zigaretten auf die Decke.«
»Was machte Walker denn?«
»Walker sprang zwischen der Schamanin, Anita, mir und dem
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