Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
schwierig, wenn ich daran dachte, wieder in Kontakt mit der CFC -Gemeinschaft zu treten.« Es erinnerte sie dauernd daran, dass andere Eltern mit ihren CFC -Kindern zusammenlebten und mit deren CFC -Eigenschaften zurechtkamen.
Jaime lebte neunzehn Jahre lang in der Wohngruppe, bis sie dreißig wurde. Sie sah ihre Eltern jedes Wochenende, obwohl sie drei Autostunden entfernt wohnten. Ein Jahr, bevor ich mit Lana sprach, wurde Jaime allerdings krank – eine komplizierte Mischung aus einer eitrigen Lungenentzündung und einem Lymphödem, wegen der sie vier Monate auf der Intensivstation verbringen musste und an der sie fast starb. Als sie sich schließlich wieder erholte, nahmen sie Lana und Mike – inzwischen einundsechzig bzw. zweiundsechzig Jahre alt – aus der Wohngruppe und holten sie wieder nach Hause zurück, mit der Unterstützung von zwei Ganztags-Pflegekräften, die vom Staat bezahlt wurden, und Erträgen aus Mikes Versicherungsgeschäften. »Auf der Intensivstation war es beinahe so gewesen, als würde ich auf eine Fremde blicken, und ich glaube, ich mochte dieses Gefühl nicht«, erklärte Lana. Sie wollte ihre Tochter beschützen. Auf der Intensivstation verabreichte man Jaime so viel metabolisiertes Morphin, dass es einen 110-Kilo-Mann für einen ganzen Tag ausgeknockt hätte – nur dass es bei Jaime nach zwei Stunden seine Wirkung eingebüßt hatte, woraufhin sie sich ihre Kanülen herausriss. Sie war 1,45 Meter groß und wog 48 Kilo. Sie konnte nicht sprechen und war nur halbwegs in der Lage, auf die Toilette zu gehen, aber sie hatte einen Willen wie Granit.
Jaimes Rückkehr nach beinahe zwei Jahrzehnten in der Wohngruppe hatte Lana eine neue Perspektive verschafft. »Ich lebe mein Leben jetzt mit weniger Angst«, sagte sie zu mir. Jetzt, da Jaime Tag und Nacht zu Hause ist, ist Mike und Lana klar geworden, dass sie mehr versteht, als sie angenommen hatten. Sie hat ihre Lieblingszeichen für ihre Lieblingswörter: Schuhe und mehr . Niemand weiß, warum: Dies scheinen die lohnendsten Begriffe in ihrem ungewöhnlichen Leben zu sein, etwas, das sie jeden Tag anzieht, etwas, das sie begehrt. »Auf dieses Zeichen mehr hat sie so viel Resonanz bekommen!«, sagte Lana. Jaime – die die »Mentalität«, wie Lana es nennt, von jemandem hat, der achtzehn Monate bis zwei Jahre alt ist – liebt Männer. »Wenn sie in der Kirche einen gut aussehenden jungen Mann sieht, den sie mag, oder einen älteren Mann, läuft sie zu ihm, packt ihn am Arm und kichert.« Jaime war dreiunddreißig Jahre alt, als ihre Mutter mir diese Geschichte erzählte.
Aber Lana stört das alles nicht. »Ich habe einfach das Gefühl, dass ich jetzt zu der Person werde, die ich immer schon hatte sein wollen«, sagte sie. »Ich arbeite mit kleinen Kindern, ich habe gelernt, Geduld zu haben und Empathie zu zeigen, auf Menschen zuzugehen, ganz gleich, wie sie aussehen. Und das hat sich alles wegen Jaime so entwickelt.« Sie dachte dann einen Moment lang nach und sprach weiter. Sie ist eine gläubige Mormonin und hatte von dem gesprochen, was die Mormonen »die Ewigkeiten« nennen, über den Himmel und Gottes Gerechtigkeit. »Eines Tages wird sie einen perfekten Körper und einen perfekten Geist haben.«
Wer würde das nicht glauben wollen? Jaime, eine erwachsene Frau mit einem kindlichen Gemüt, hatte Lanas Leben schon dadurch verändert, dass sie unbekümmert ihr eigenes weiterlebte. Und diese Veränderung hatte an dem Tag begonnen, wie sich Lana erinnerte, als das andere Kind mit CFC in ihr Klassenzimmer gekommen war. »Für mich«, sagte sie mit Nachdruck, »hat diese Begegnung eine Lücke gefüllt.«
Als ziemlich konventioneller Atheist fühlte ich mich nicht wohl mit der Idee der Ewigkeit und Wörtern wie Wunder . Aber sie schienen eine wichtige Rolle in dem Leben vieler Menschen zu spielen, die sich um Kinder mit Behinderungen kümmerten. Die Möglichkeit, dass ihr Leben von Gottes Gnade berührt worden war, schien zumindest eine Form, einen Sinn in der sonst sinnlosen Last zu sehen, die sie trugen.
Neun
ICH NEIGTE DAZU , Eltern, die CFC -Kinder hatten, am Nachmittag anzurufen: Ich konnte mich erst im Laufe des Tages dazu aufraffen, all meinen Mut zusammenzunehmen. Ich hatte Angst vor dem, was ich dabei erfahren könnte – dass ihr Kind mehr Glück hatte als Walker, dass diese Eltern hingebungsvoller gewesen waren. Und doch trat das nie ein. Niemand hatte mehr Glück. Wenn jemand in dieser merkwürdigen Welt der Schwerbehinderten
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