Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Das ist nicht oft so, aber wenn es so ist, passen Sie auf. Es gibt Tage, da sage ich, absolut ausgeschlossen. Spinnst du total? Wenn ich an die Möglichkeit denke, noch ein Kind zu bekommen, das in irgendeiner Form behindert ist. Aber dann denke ich, ich fühle mich so geehrt, diese beiden Töchter zu haben, vielleicht wäre ein drittes sogar noch bemerkenswerter. Vielleicht wartet ja auch eine höhere Bestimmung auf mich. Und dann gibt es Tage, an denen ich denke, mein Gott, das ist ja wie Roulette.
Im Moment denke ich, dass Kinley mir – Junge, Junge – ohne es überhaupt versucht zu haben, beigebracht hat, mit einem Gefühl der Freude zu leben, trotz schwieriger Umstände. Und meine Zeit weise zu nutzen. Mir nicht zu viele Sorgen über morgen zu machen, sondern das Heute zu genießen. Sie hat mich gelehrt, über die kleinen Freuden des Lebens zu lachen. Sie hat mir geholfen, meine eigene Vorstellung vom Leben zu entwickeln. Junge, sie hat mich gelehrt, dass jeder Mensch etwas beizutragen hat und dass man von so vielen Menschen wie nur möglich lernen sollte. Ganz egal, wie fähig sie sind, welcher Ethnie sie angehören oder welcher Religion. Sie hat mir beigebracht, nicht mehr in den Spiegel zu schauen, zu sehen, dass es im Leben um mehr geht als nur um mich selbst. Ich glaube, ich habe auch gelernt, dass wir sehr verbunden sind. Ich brauche diese Mädchen so sehr, wie sie mich brauchen.«
Diana Zeunen wohnte in Willmington, North Carolina. Ihr Sohn Ronnie war dreizehn und eines von den besonders behinderten Kindern im CFC -Netzwerk: Sein Ziel dieser Tage war, selbstständig essen zu lernen. Ronnies Leben hatte die Form einer außerordentlichen Prüfung angenommen, aber dies – in der Lage zu sein, selbst zu essen – schien doch etwas so Schlichtes zu sein. Dianas Ehemann, ein Kfz-Mechaniker, hatte bereits zwei eigene Kinder, als Diana ihn heiratete, Ronnie sollte ihr gemeinsames Kind sein. »Er war das Ergebnis einer revidierten Vasektomie«, erzählte mir Diana, »also er war wirklich gewollt.«
Sie hatte eine ganz normale Schwangerschaft gehabt, aber als Ronnie geboren wurde, waren seine Glieder abwechselnd angespannt oder schlaff oder wie Wackelpudding. Die Ärzte diagnostizierten eine zerebrale Kinderlähmung. Diana war zu keinem Zeitpunkt davon überzeugt. »Ja, er rollte sich nicht auf die andere Seite oder stellte Augenkontakt her, wie die anderen Kinder mit zerebraler Kinderlähmung, aber er war trotzdem nicht so wie sie. Und natürlich gab es keinen Gen-Test.« Inzwischen hatte er zahllose gesundheitliche Probleme: »Warum schrie er? Warum weinte er? Wir gingen zu Gastroenterologen, wir gingen zu Hautärzten.« Die ganze Zeit über schlug er sich selbst, als wäre er ein Autist. Als Ronnie vier wurde, las Diana einen wissenschaftlichen Aufsatz mit Bildern von Kindern, die genauso aussahen wie er, auf diese Weise kam sie ganz von allein zum Schluss, dass Ronnie CFC hatte. »Wir füttern ihn immer noch mit dem Löffel«, erzählte mir Diana, und ich wusste, was das mit sich brachte. »Er schlägt sich immer noch selbst. Für mich ist das eine Form der Kommunikation.« (Dito) »Leute sagen, er hat ein ansteckendes Lachen. Leute sagen zu mir, dass er einen erkennt, aber ich bin mir nicht sicher. Es macht mich traurig, zu denken, dass er es nicht tut.« (Stimmt.) »Man will doch immer dieses: › Mama ‹ .« (Stimmt.)
Mit den Eltern anderer Kinder mit CFC zu sprechen, hatte etwas Beruhigendes – da draußen gab es noch andere, die wussten, wie das war –, aber es war auch entmutigend, die eigene Angst, Gran für Gran, gespiegelt zu sehen. Ein Netz der Einsamkeit und des Exils war ganz fest über uns alle gespannt worden.
Fergus und Bernice McCann wohnten mit ihrer Tochter Melissa in Burnaby, British Columbia, am Rande Vancouvers. Melissa wurde 1985 geboren, also lange bevor die ersten Aufsätze zu diesem Syndrom publiziert wurden. In der CFC -Gemeinde, war sie mit zweiundzwanzig Jahren eine der ältesten. Sie hatte als Neugeborene siebenundvierzig Tage auf der Säuglingsstation verbracht, bevor man sie nach Hause gelassen hatte: Siebenundvierzig Tage, um sicherzugehen, dass sie überleben konnte, bevor das Krankenhaus sie ihren Eltern übergab, zusammen mit der zermürbenden Frage, wie sie sie denn nun selbst am Leben erhalten sollten. In dem hochgradig bürokratisierten System der Gesundheitsversorgung ihrer Heimatprovinz gab es keinen vergleichbaren Fall, mit dem Ergebnis, dass sie anfangs weder
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