Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Beschäftigungstherapie noch Physiotherapie bewilligt bekam.
»Wir haben eine Menge an mangelnder Wertschätzung erlebt«, sagte Fergus, »und davon, wie einem medizinische Versorgung versagt wird. Zu der Zeit war CFC nur eine Kategorie. Sie wissen: › Ja, also, dazu gehört das und das. ‹ «
Melissa war eine Erwachsene, aber sie verhielt sich wie eine schlaue Zwei- oder Dreijährige; sie konnte ein Glas Milch aus dem Kühlschrank holen, sie konnte essen, aber sie konnte sich nicht selbst anziehen, und wenn sie frustriert war, biss sie sich in die eigenen Hände. Sie konnte ihrer Mutter sagen, wo das tragbare Telefon hingelegt worden war, aber sie konnte auf keinen Fall allein überleben. Außenstehende hatten oft Angst vor Melissa: Sie war beinahe kahl und hatte Blutschwämmchen – weinfarbene, vaskuläre Hautwucherungen – zwischen den Augen. (Einige Ärzte sagten ihren Eltern, man solle sie entfernen lassen, andere bestanden darauf, dass man sie nicht anrühren sollte.)
Wir sprachen am Telefon miteinander; Bernice war mit Melissa in der Küche, Fergus an einem Nebenanschluss in einem anderen Zimmer zugeschaltet. »Ich glaube, wir beurteilen sehr kritisch, wie die medizinische Versorgung für jemanden wie Melissa aussieht«, sagte Bernice. Ihre Stimme klang dumpf. »Unserem Kinderarzt fiel einfach nichts zu ihr ein. Er sah wohl nicht viel Sinn darin, irgendetwas zu tun. Er stellte immer die gleichen Fragen: Hatte irgendetwas Melissas Leben über einen kürzeren Zeitraum verändert, über einen längeren? Nein. Aber er war natürlich neugierig und interessiert. Die Mediziner, so schien es uns, befriedigten gern ihre Neugier.«
Melissa war ein Anschauungs-Exemplar. Aber sie hatte eine Persönlichkeit, eine wahrnehmbare Präsenz ebenso wie ein erstaunliches Gedächtnis: Sie benutzte immer noch die dreißig Zeichen, die man ihr als Kind beigebracht hatte. Sie konnte eine Wahl treffen und hatte klare Vorlieben und Abneigungen, besonders, was ihre Kleidung anbelangte. »Man denkt, sie hat es nicht einmal angeschaut«, sagte ihre Mutter, »aber sie zieht es nicht an.« Darin war sie nicht anders als viele andere Teenagerinnen.
»Melissa empfindet sehr viel Empathie für andere Menschen und für Hunde und andere Tiere«, sagte Fergus da vom Nebenanschluss, und ich schwankte wieder, wie ich es schon gewohnt war: Niederschmetternd, einen Mann in dieser Weise über seine Tochter sprechen zu hören, auf der Suche nach netten Dingen, die er über sie sagen könnte, und dann mit ihrer Empathie für Haustiere rüberzukommen, wie ein Fisch, den er zu seinem eigenen Erstaunen aus einem reißenden Fluss gefischt hatte. Ich verstand das, glauben Sie mir, ich verstand das nur zu gut, aber es deprimierte mich trotzdem. Jedes Gespräch, das ich mit anderen CFC -Eltern führte, war so.
Was Fergus besonders verrückt machte, war, dass er wegen Melissa nicht die gleichen Impulse und Sehnsüchte wie der Rest der Welt haben durfte – denn ganz normale Wünsche für das eigene Leben zu haben, bedeutete, dass man sich selbst an erste Stelle setzte – und sei es auch nur einen Augenblick.
»Welchen Preis haben Sie beide gezahlt?«, fragte ich.
»Sag schon, mein Schatz«, sagte Bernice. Dies war offensichtlich ein häufiges Thema.
»Ich denke, ich habe, was die Karriere anbelangt, einen Preis bezahlt«, sagte Fergus. »Keiner von uns konnte den Beruf wechseln, sich weiterbilden. Ich habe schon versucht, beruflich weiterzukommen. Aber ich konnte keine Siebzig-Stunden-Woche absolvieren.«
»Und in diesem Hause wird wenig gelacht«, fügte Bernice hinzu. »Unsere Jungs lachen, aber sie sind nicht sorglos. Sie sind zwanzig und zweiundzwanzig. Als sie achtzehn waren, haben sie Melissas Menstruationsbinden gewechselt. Welcher achtzehnjährige Junge sollte das tun müssen?« Zumindest einer der Brüder hatte offen erklärt, dass er nicht vorhabe, selbst einmal Kinder zu haben: Er hatte schon genug in der Hinsicht erlebt mit seiner Schwester.
Im Hintergrund hörte ich Melissa ein bisschen stöhnen. Ich fragte mich, ob ihr das alles wohl peinlich war.
»Ja, sie sind nicht hier«, sagte Bernice zu ihrer Tochter und bezog sich dabei auf ihre Brüder. »Sie kommen heute nicht.«
»Unsere Provinzregierung vertritt den Standpunkt, wenn man ein behindertes Kind hat, muss die Familie einspringen«, erklärte Fergus. »Sie sorgen dafür, dass man schwer an Geld herankommt. Eltern oder Kinder mit Behinderungen bitten andauernd um irgendetwas,
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