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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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irgendwo im Vorteil war, war er an anderer Stelle wieder im Nachteil. Illusionen bekam ich selten zu hören: Die Lebensumstände dieser Eltern waren krass, aber sie waren auch klar, und solche Klarheit besaß eine seltene Anziehungskraft.
    Also rief ich sie an oder fuhr manchmal los, um sie kennen zu lernen, und dann erzählten sie mir ihre Lebensgeschichten. Sie erzählten mir die erstaunlichsten Dinge.
    Shelly Greenshaw lebte in Oklahoma City und hatte einen typischen breiten Oklahoma-Akzent. Sie war die Mutter eines fünf Jahre alten Mädchens mit CFC namens Kinley und eines vier Jahre alten namens Kamden, die etwas hatte, das Shelly als eine Form des Autismus einschätzte. Die Vorstellung, gleich zwei behinderte Kinder zu haben, verschlug mir den Atem, aber Shelly war in vielerlei Hinsicht eine überraschende Person. Sie hatte in ihrer Collegezeit Softball gespielt (»Ich habe zunächst Leftfielder gespielt, aber nachher war ich Catcher«) und war außerdem zur »Miss Congeniality« bei den Miss Teen America-Wahlen von 1995 gewählt geworden, bei denen sie nur zum Spaß mitgemacht hatte. Nach dem College begann sie für eine Arzneimittelfirma zu arbeiten, für die sie immer noch im Verkauf tätig war. Sie war nicht die Sorte von Mensch, die ich mir als Mutter eines behinderten Kindes vorgestellt hatte.
    »Wie schaffen Sie das?«, fragte ich sie. »Mit zwei solchen Mädchen?«
    »Manchmal denke ich, ich habe halt keine andere Wahl.« Außerdem habe sie schon Kinder gesehen, die weitaus schlimmer dran seien, und habe das Gefühl, gut dran zu sein, weil sie ein Kind hatte, das gehen, und eins, das sprechen konnte. Sie war Christin, und auch das half, sagte sie. Dann gab sie zu, dass auch sie ihre dunklen Tage habe und dass diese untrennbar von den guten seien.
    »Ich weiß auch, dass sie viel Freude in mein Leben gebracht haben«, sagte sie. »Ich weiß, dass sie tief in ihrem Herzen vollständige kleine Menschen sind. Ich glaube wirklich, dass sie keine genetischen Fehler sind. Vielleicht sind sie in unserer Vorstellung Fehler, manchmal, wegen der künstlichen Grenzen, die wir Menschen ziehen. Aber ich glaube, dass wir alle genetische Mutationen in uns tragen, nur dass die bei uns im klinischen Sinne nicht so offensichtlich sind. Dass ich diese Mädchen habe, hat auch meine Lebensweise verändert. Es hat meine Art zu kommunizieren verändert. Es hat die Art, wie ich mit Leuten umgehe, verändert.« Diese Veränderungen gefielen ihr gut. »Ich habe keine Angst mehr vorm Leben«, sagte sie. »Ich habe keine Angst mehr vor dem Unbekannten.« Sie erzählte mir, dass sie, wenn sie jetzt in einer Einkaufsmall auf jemanden im Rollstuhl stieß, zu ihm hinlaufen und ihn umarmen wollte. »Ich weiß, dass ich hier quasi auf der Langstrecke bin. Das hat auch einen Wert, den viele Menschen gar nicht erleben können.«
    Sie hielt einen Moment inne, und dann sagte sie, dass sie eigentlich gar nicht wisse, warum sie immer noch Augenblicke der Verzweiflung erlebe. »Meine kleinen Mädchen sind das beste Beispiel für Selbstlosigkeit und Gutmütigkeit, das ich kenne. Und doch empfinde ich manchmal ein tiefes Gefühl des Verlustes, was sie anbelangt. Ich kann es nicht von meinen eigenen Verlustgefühlen trennen. Dass vielleicht manche ihrer Hoffnungen zerstört werden. Dass sie sich nie auf die gleiche Weise angenommen fühlen können, wie ich das konnte.«
    Das Licht, in das ihre Kinder ihr Leben getaucht hatten, und die Dunkelheit, die um sie und ihre Zukunft herum lauerte, gingen Hand in Hand, sagte sie, eins war nicht möglich ohne die Existenz des anderen. Das Schwierigste, was es anzunehmen galt, war nicht bloß die Härte, die ihre Kinder erwartete, sondern dass sie selbst, erst nachdem sie ein behindertes Kind bekommen hatte, begriffen hatte, wie kompliziert das Leben war, wie düster, und gleichzeitig auch, wie reich. Kinleys bloße Existenz (ebenso wie Walkers, wie mir jetzt klar wurde) war eine Form des Protestes, eine Mahnung, genauer hinzusehen oder zumindest wacher zu sein.
    »Ich schaue auf die Mädchen und denke, wer kann schon sagen, ob sie in ihrer Welt nicht glücklicher sind als ich in meiner? Und dann stelle ich mich hin, und sie tun mir leid, weil ich versuche, sie nach Maßstäben einer Welt zu beurteilen, der sie gar nicht angehören.« Sie hatte in der Nacht zuvor eine ganze Zeit lang geweint, als sie mit ihrem Mann darüber gesprochen hatte, ob sie noch ein Kind haben sollten. »Das Weinen hat mir gut getan.

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