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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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ihm seine Medizin und fütterte ihn beim Abendessen, scherzte mit ihm, saß immer neben ihm, badete ihn und half ihm ins Bett. Manche Assistenten sorgten sich, ob kleine Scherze über die Angewohnheiten der Bewohner wohl nicht korrekt seien, aber die Bewohner genossen sie zumeist. Sie waren gern der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und der Scherze: Sie machten sich keine Illusionen darüber, wie sie aussahen oder was sie alles nicht tun konnten. »Ich lege alles hinein, was ich habe«, sagte Garry.
    Jean-Claude, mein Gefährte beim Abendessen, war einundsechzig. Als ich neben ihm saß, begann ich mir dieses Leben für Walker nach meinem Tod vorzustellen, ich konnte mir weitaus schlimmere vorstellen. Aber die Warteliste, um in L’Arche in Kanada hineinzukommen – wo es weniger Zweigstellen gab als in Frankreich – betrug in der Tat zwanzig Jahre. Ich zeichnete ein Bild von Jean-Claude in mein Notizbuch, er beobachtete mich dabei, also zeigte ich es ihm. Er explodierte schier vor Freude. Es schien, als hätte ich einen Weg zu seinem Vertrauen und seiner Gesellschaft gefunden – in seine Welt. Es gab keine Regeln, keine vorgeschriebenen Wege: Man behalf sich mit dem, was möglich war, mit dem Menschlichsten, an das man anknüpfen konnte. 5
    Und dies ist das Seltsamste: Selbst in den nur dreieinhalb Tagen, die ich in Trosly-Breuil verbringen konnte, brachten mir diese zerbrochenen Männer und Frauen eine Menge bei.
    Ein Beispiel. Es gab im Dorf eine Bäckerei, eine Boulangerie , ungefähr fünf Minuten zu Fuß von meiner Unterkunft entfernt. Ich machte mich zwei Morgen hintereinander auf den Weg, um ein Baguette zu kaufen und einen Kaffee zu trinken, aber bevor ich die Bäckerei betreten konnte, wich ich ängstlich zurück. Es ist schwer zu beschreiben, wie sehr mich dieses kleine Versagen quälte. Mein Französisch war unzulänglich, sie würden mich auslachen: Die ganze Aussicht darauf schüchterte mich ein. Ich begriff, dass ich vor allem Angst hatte. Angst zu duschen, weil ich nicht alle aufwecken wollte, Angst zum Frühstück herunterzukommen. (Aber um neun Uhr morgens war das Haus voller Geräusche – lange hohe Seufzer, Zugpfiffe, Ays und Oohs und Klatschen.)
    Aber irgendetwas an der bescheidenen Natur des Lebens im Foyer half mir da heraus. An meinem dritten Morgen in La Semence wachte ich früh auf und begab mich in die Dusche, die vom Flur, an dem mein Zimmer lag, abging. Es war das erste Mal seit drei Tagen, dass ich duschte – in einer Kabine in einer Art Abstellraum und mit einem nicht gerade idealen Wasserstrahl – und es war wie der Gipfel des Luxus. Da verstand ich, wie viel das Duschen oder ein Bad Jean-Claude, Gérard, Laurent und Gégé und auch Walker bedeuten mussten – ein permanenter Quell der Freude, das Gefühl, dass sie einen Moment lang in ihren desorganisierten Körpern eine körperliche Kontur bekamen.
    Nach dem Duschen zog ich mich an und ging ins Dorf, über eine kleine Baustelle: L’Arche baute zwei neue Foyers , verwandelte alte Gebäude in neue Heime. (Die französische Regierung hatte jüngst die Auflagen für Behinderten-Einrichtungen neu definiert, und die Anpassung daran war bereits zu einer ernsthaften finanziellen Belastung geworden.) Es war Frühlingsanfang – an den Bäumen sprossen Knospen in der Größe von Kinderfußbällen. Eine Eule schrie. Der beste Weg war, wie Garry mir erklärt hatte, sich etwas zu essen in der Boulangerie zu kaufen, und es dann mit nach nebenan ins Hotel mitzunehmen, um un café zu trinken. Es gab nur eins, an das ich denken sollte. »Wenn Sie hinein gehen, sagen Sie › Monsieurs, Mesdames ‹ – dann denken sie zumindest nicht, dass Sie irgendein absolut unhöflicher Tourist sind.« Ich saß auf dem Marktplatz und sammelte all meinen Mut zusammen. An der Bushaltestelle neben mir hingen ein paar Teenager herum und rauchten. Wieso hatte ich plötzlich vor allem Angst? Angst davor zu duschen, auf Französisch ein Brot zu kaufen, ein kleines Hotel auf dem Lande zu betreten – Angst vorm bloßen Dasein . Behindert, der Sprache beraubt, voller Angst davor, was die anderen wohl denken würden.
    Walker macht sich ob derlei nie Gedanken.
    Ich betrat die Boulangerie. Eine Bewohnerin von L’Arche war bereits drin, ein junges, dünnes Mädchen mit einer hohen, stockenden Stimme, einem Stammeln – als ob ihr Körper ihrem Geist nie ganz würde folgen können. Dennoch gelang es ihr, für das ganze Heim Frühstück einzukaufen. Ich stürzte mich ins

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