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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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in sein Heim gezogen ist, zahle ich immer noch die Schulden im Zusammenhang mit Walker ab.
    In besonders schwierigen Nächten, oder wenn es sehr stark regnete, oder vor allem nach den schrecklichen Streitigkeiten, die meine Frau und ich manchmal ausfochten, von Schlaflosigkeit geplagt und beschämt über unser Versagen bei diesem seltsamen Jungen, fragte ich mich selbst, ob es nicht mutiger wäre, mir das Leben zu nehmen und Walker dabei mitzunehmen. Selbstmord ist nicht das, woran ich üblicherweise denke, wenn alles misslingt. Aber die Hoffnungslosigkeit des vor mir liegenden Lebens mit der permanenten Fürsorge für Walker konnte dieses Gespenst in mir hervorrufen. Es gab ja das Chloralhydrat, es gab die Tabletten. Es gab den Wagen, es gab Stellen, von denen man sich mit dem Wagen herunterstürzen konnte, es gab Seen, in die man hineingehen konnte.
    Eine meiner geheimen Todesfantasien sah so aus, dass ich Walker in eine Babykiepe stecken würde, die ich besaß, eine Art Babytrage, und ihn hoch in die Berge Westkanadas im Winter schleppen würde, an einen meiner Lieblingsorte auf dieser Erde, und mich in eine Schneewehe legen und es dort beenden würde, still und leise und hypothermisch. Ich stellte mir diese Aktion bis ins kleinste Detail vor, wie ich einen Augenblick wählen würde, wenn Johanna im Kino und Hayley in der Schule war, wie ich ihn aus dem Haus und zum Flughafen schaffen würde, mit all seinem Zeug und meiner ganzen Ski-Ausrüstung. Unglücklicherweise ließ allein das schon meine Todesfantasie entgleisen: Wenn ich durch diesen Scheiß-Albtraum durchkommen konnte, den Flughafen mit Walker und den Skiern, dann konnte ich alles überleben, und es bestand gar kein Grund dafür, mich umzubringen. Das war nicht ganz das, was Nietzsche gemeint hatte, als er schrieb, dass der Gedanke an den Selbstmord schon viele Leben gerettet hat, aber es würde schon ausreichen.
    Und außerdem brachte ich es sowieso nicht über mich – wegen Hayley, wegen Johanna, wegen mir und auch wegen Walker selbst. Weil sie von mir erwarteten, dass ich weitermachte. Weil sie ein gutes Vorbild brauchten – den Basso continuo des treusorgenden Vaters.
    Gelegentlich hatte ich einen noch radikaleren Einfall: Ich konnte mich einfach mit Haut und Haaren der Fürsorge für Walker verschreiben. Der Gedanke hatte auch etwas Anziehendes, etwas Weiches, Schwelend-schicksalhaftes. Ich vermute, dass viele Mütter und besonders viele allein erziehende Mütter das Gefühl kennen – weder optimistisch, noch pessimistisch, sondern bloß resigniert. Zumindest würde ich auf diesem Weg das ewige Ressentiment vermeiden, die grässlichen Übergaben von meiner Aufsicht zu der meiner Frau und wieder zurück. Schließlich wäre einer von uns zuständig. Für Walker zu sorgen, war so allumfassend, dass man die Zeit, in der man nicht für ihn sorgte, damit verbringen musste, anderes nachzuholen – Schlaf, Arbeit, Hausarbeit und Erledigungen, Steuern und Anrufe, gar nicht zu reden von all den Dringlichkeiten und Notfällen, die gerade im Zusammenhang mit seiner Pflege auf uns warteten. Wer sich gerade um Walker kümmerte, zwang den anderen, all das nachzuholen, und so fühlte es sich immer so an, als täte man alles ganz allein. Man konnte gar nicht anders, als voller Ressentiment zu sein.
    Erkennen Sie das irgendwie wieder? In diesen dunklen Nächten hegte ich den Verdacht, dass das niemand anderes tat, dass niemand anderes wusste, wie sich das anfühlte, ich war überzeugt, dass wir ganz allein waren. Es ist schwer zu erklären, wie wir uns fühlten, weil wir dabei versagt hatten, Walker beizubringen, wie er durchschlafen konnte, oder sprechen, essen, pinkeln oder auch nur uns anschauen – können Sie sich vorstellen, in welchem Ausmaß wir uns als Versager fühlten? Ich weiß, dass das nicht rational ist, aber wir fühlten uns für all das verantwortlich. Man kann nicht anders, als zu fühlen, was man fühlt, nicht mitten in der Nacht auf der hinteren Veranda eines kleinen maroden Hauses mitten in der Stadt, während das weiße Neonlicht aus der Küche der chinesischen Familie nebenan in unseren Garten fällt wie das Flutlicht in einem Konzentrationslager, während Klein Frankenstein selbst oben im zweiten Stock schläft, dem zweiten Stock, der in manchen Nächten so schwer zu erklimmen ist wie der Mount Everest. Es gab Nächte, in denen ich so durchgedreht war, so müde, so erschöpft und ausgelaugt, dass ich anfing zu lachen, während ich den Flur

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