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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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verletzlich durch Sie. Sie tun nicht etwas für ihn. Sie sind nur bei ihm. Schnalzend. Ich mag den Ausdruck. Wenn Sie also mit Walker zusammen sind und schnalzen, dann sind sie einander dankbar. Sie können sich vorstellen, wie dankbar er ist, weil das hier Papa ist, der ihn anschaut. Und Sie sind dankbar, weil er Sie anschaut, das Kind in Ihnen. Er schaut Sie nicht wie jemand an, der das Beste von diesem oder jenem geschrieben hat. Er sieht Sie so, wie Sie in den Tiefen Ihres Seins tatsächlich sind.«
    Ich will gar nicht nahelegen, dass dies der einzige Weg ist, einen schwerbehinderten Jungen zu verstehen. Aber Vanier hat diese Dinge nun mal gesagt. Manchmal ergaben Sie für mich einen Sinn, und manchmal kamen sie mir vor wie die schwer zugänglichen Gedanken eines Mannes mit einer tiefen religiösen Überzeugung, die ich nicht teilte.
    Ich zog Trost aus dem, was Vanier über Walkers Wert sagte, und doch erschöpfte mich mitunter die Anstrengung, das alles auch zu glauben.
    Später an jenem Tag, dem Tag meines Bäckerei-Durchbruchs, stieß ich auf Françine, die in ihrem Rollstuhl ein Sonnenbad nahm. Sie stand auf einem Pfad, der von La Semence auf die Straße führte, Lydie, die hübsche Assistentin aus Südfrankreich, war fünf Meter entfernt und harkte im Garten. » Comment ça va?« , sagte ich zu Françine und berührte sie an der Schulter. Ich wollte schon weitergehen, als sie meine Hand ergriff und dann meinen Arm. Sie hatte Kraft und zog mein Gesicht nahe an ihres. Sie war spastisch, gelähmt, aber ihr Mund war offen und machte knurrende Geräusche, die lauter und lauter wurden. Ihr Mund war nahe an meinem Ohr, ihre Zähne ein einziges Durcheinander: Ich dachte, sie würde mich beißen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also umarmte ich sie und gab ihr einen Kuss. Ich sah auf, und da war Lydie, die uns beobachtete. »Es tut mir leid«, sagte ich in meinem schlechten Französisch. »Ich glaube, ich habe sie aufgebracht.«
    »Nein, es ist gut«, sagte Lydie. »Sie mag Männer.« Dann wandte sie sich wieder ihrer Gartenarbeit zu und harkte weiter Blätter zusammen.
    Als Walker zwei war, dachte ich selten über ihn nach, ohne zugleich an den Tod zu denken – hauptsächlich an meinen, aber manchmal auch an seinen. In der Nacht, nachdem er eingeschlafen war, wenn er eingeschlafen war, oder mitten in der Nacht, wenn ich aufwachte und er nicht, sah ich die Jahre, die sich vor uns erstreckten, eins wie das andere. Ich fragte mich, ob ich eine Chance hatte, noch irgendetwas anderes zu tun, außer ihn zu versorgen, fragte mich, ob die Fürsorge für Walker schließlich die Liebe zu meiner Frau bröckeln ließe und zum Erlöschen brächte. Ich stellte mir vor, wohin all meine Sorgen wanderten, welche Abszesse und Geschwüre sie erzeugten.
    Aber hauptsächlich sorgte ich mich über meinen Tod: Darum, dass er zu früh käme, bevor ich die Chance hätte, die Zukunft zu planen, und was danach mit Walker geschehen würde. Ich fragte mich, ob es vielleicht eine Erleichterung sein würde, wenn er starb und ob es auch eine Erleichterung wäre, wenn ich ebenfalls starb. Geld war eine ständige Sorge, ein Abgrund der Sorgen. Weil ich nicht wollte, dass Johanna mit der zweifachen Bürde sitzenblieb, sich allein um Walker und das Familieneinkommen kümmern zu müssen, falls ich vor ihr verscheiden würde (wie mein Bankberater sich auszudrücken beliebte), schloss ich eine Hypothekenversicherung ab. Das waren 500 Dollar im Monat. Olgas Monatslohn und Walkers Ersatznahrung verschlangen im Jahr mehr als 40 000 Dollar. (Viele Jahre lang betrug die Rechnung für Walkers Ersatznahrung 800 Dollar im Monat und wurde nicht von meinen Sozialleistungen aufgefangen – Nahrungsmittel sind schließlich nicht abzugsfähig. Ich zahlte weitere 800 Dollar im Monat für Lebensmittel für den Rest der Familie, und dafür aßen wir gut. Walker musste eine fantastische Ersatznahrung haben! Inzwischen sind es 1200 Dollar im Monat, weil sie, der Beschreibung des Herstellers zufolge, für Kinder »bearbeitet« ist, die unter Reflux leiden.) Kosten für Rezepte, medizinische Geräte, selbst die Parkgebühren am Hospital for Sick Children (mindestens 9 Dollar jedes Mal, wenn wir dort waren) – das alles summierte sich zum üblichen Verschleiß, den eine Familie für ihre Gesundheit erduldet. Es war immer interessant zu sehen, wann unser Geld aufgebraucht war: Mitte August? Oder würden wir es dieses Jahr bis September schaffen? Drei Jahre, nachdem er

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