Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
stellen nur noch die Frage, wie kann ich in dieser Gesellschaft Erfolg haben? Jeder ist nur auf sich allein gestellt. Tu dein Bestes, mach so viel Geld wie möglich. Was für eine Art von Vision haben wir also? Irgendwo in L’Arche ist auch die Sehnsucht, ein Zeichen zu setzen – ein Zeichen dafür, dass eine andere Vision möglich ist. Wir sind natürlich nicht die Einzigen, die so etwas machen. Es gibt eine Menge kleiner Gemeinschaften.«
Eine Gemeinschaft der Behinderten als ein Modell, wie die Welt effektiver ko-existieren könnte: Ich muss zugeben, das beeindruckte mich als eine wirklich radikale Idee, ja sogar als eine grandiose. Gleichzeitig kam es mir auch hoffnungslos unrealistisch vor – die Art von Idee, die in der Vorstellung wunderschön ist, die ein Idealist lieben würde, einschließlich Vanier.
Also sagte ich: »Ich finde, das ist eine wunderschöne Idee, aber so funktioniert die Welt einfach nicht. Die Menschen sind nicht so. In Ruanda müssen erst 800 000 Menschen in einem Massaker sterben, bevor wir versuchen, das zu stoppen. Wir scheinen nicht fähig zu sein, die offenkundigsten Tragödien zu verhindern – gar nicht zu reden von den kleinen, persönlichen. Wie kann ich also hoffen, die Welt davon überzeugen zu können, dass man Walker als ein menschliches Wesen ansehen sollte – nicht nur als einen behinderten Menschen, weil er das ist, sondern auch als einen Menschen, der vielleicht Talente hat – nur eben nicht die Talente, die wir uns üblicherweise wünschen?« Was ich meinte, war, dass ich mir wünschte, die Welt würde Walker nicht bloß als einen Jungen mit vielen gewöhnlichen Eigenschaften sehen, sondern auch als einen Jungen mit ungewöhnlichen Eigenschaften. Aber das war einfach zu viel, um es für möglich zu halten. »Die Wahrheit ist«, sagte ich, »dass die Welt einfach nicht so ist.«
»Es gibt einen wunderschönen Text von Martin Luther King«, sagte Vanier, ohne zu zögern. »Jemand sagte zu ihm: Wird es immer so sein – dass jemand die Menschen verachten wird und andere wird loswerden wollen? Und er sagte, ja, bis wir alle gelernt haben, das zu sehen, zu akzeptieren und zu lieben, was in uns allen verächtlich ist. Und was ist jene Verächtlichkeit? Dass wir geboren sind, um zu sterben. Dass wir nicht die volle Kontrolle über unser Leben haben. Und das gehört einfach zu uns. Aber wir müssen auch entdecken, dass wir noch zu etwas anderem geschaffen sind, nämlich Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft, und dass wir versuchen müssen, diesen Drang, der Beste sein zu wollen, zu stoppen. Nur dann können wir etwas aufbauen, wo es weniger von diesen Vorfällen gibt, die in Ruanda und anderswo passieren.«
Bald danach verließ ich Vanier. Wir hatten genug geredet, und er bereitete sich auf seine baldige Abreise nach Kenia vor. Ich zwängte mich aus dem engen Steinhaus in Trosly, ging die Straße entlang, dann einen Pfad und über ein Feld. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich besiegt oder gepackt war. Vaniers Ideen sprachen die Menschen an: Zwei seiner Bücher waren Bestseller geworden, und mehrere waren in beinahe dreißig Sprachen übersetzt worden. Er ist Ritter der Ehrenlegion in Frankreich, und in Kanada hat man ihn zum Companion of the Order of Canada ernannt. Er hatte radikale Ideen: Zerbrechlichkeit war Stärke, der Frieden lag nicht länger in der Toleranz von Unterschiedlichkeiten, sondern darin, sie zu überbrücken, indem man sich gegenseitig der eigenen Schwäche versicherte. Ich fragte mich, wie das im Nahen Osten wohl über die Bühne gehen sollte – wenn, sagen wir, Israel seine Ängste und Schwächen der Hisbollah gegenüber offenlegten und die Palästinenser um Hilfe bitten würde, statt das Gelöbnis abzulegen, jegliche Quelle der Bedrohung für Israels Sicherheit auszulöschen. In Vaniers Welt war Walker nicht ein schwaches Bindeglied, sondern ein besonders starkes.
Verstehen Sie: Ich wollte das wirklich glauben. Jede Faser von mir weiß, dass mein seltsamer kleiner Junge jedem etwas über sich selbst beibringen kann. Ob das jemals geschehen wird, ist allerdings eine andere Geschichte.
4 Ich bin immer überrascht über das große Spektrum von Menschen, die die Energie von Behinderten erlebt haben, wie schwierig und sogar peinlich diese Energie auch manchmal sein kann. Vor gar nicht langer Zeit zum Beispiel stand ich auf einer weihnachtlichen Wintersonnenwende-Party vorm Käsetablett zufällig neben John Ralston Saul, dem Schriftsteller und
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