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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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es gekauft, weil es mich an Walker erinnerte. Bezaubernd, aber schwer zu enträtseln.«
    Das Abendessen war das Kernstück des Tagesablaufs in La Semence. Mein Französisch war mehr als eingerostet, aber in dem Haus war das nicht weiter schlimm: Ich war einfach noch einer der halb stummen Leute und oft nicht in der Lage, mich verständlich zu machen.
    Jeder in La Semence nahm das Abendessen ernst. Blumen standen auf dem Tisch. Die Assistenten nahmen, da sie Franzosen waren, das Essen ernst. Die Eintöpfe, Suppen und Salate kamen in hübschen Schüsseln auf den Tisch und waren ohne Ausnahme köstlich. Es wurde immer Wein ausgeschenkt, selbst an die Bewohner, wenn ihre Medikamente das erlaubten; es gab häufig Gäste, und man hieß sie willkommen und stieß mit ihnen an. Die Mahlzeiten begannen immer zeremoniell: Man hielt sich an den Händen und sang das Tischgebet. Dieser Akt allein schon, nach den Fingern eines anderen zu greifen, war ein verlängerter Augenblick des Unbehagens – ich fand es etwas unangenehm, jemanden an den Händen zu halten, den ich nicht kannte, und dann fand ich es lächerlich, dass es mir unangenehm war. Und diese Hände! Ob sie nun steif, zangenartig, trocken, feucht, schwammig, knochig oder fett wie Koteletts waren, sie packten zu und hielten fest, hier gab es keine Peinlichkeit und Schüchternheit. Jede Hand war eine Welt für sich.
    Gégés Hand war fest und zusammengepresst: Ich musste die Finger meiner rechten Hand regelrecht in seinen schmalen, kleinen Griff zwängen. Jean-Claude öffnete seine Hand und lachte dann, als er meine ergriff und hielt sie fest, aber ich musste mit der Schlaffheit seines Griffs zurechtkommen, als hätte er vergessen, dass seine Hände an seinen Armen hingen. Ich versuchte, gelassen damit umzugehen. Manchmal vergaß er auch, wieder loszulassen.
    Sobald das Tischgebet gesprochen war, trugen die Assistenten Schüsseln mit grünem Brei für diejenigen auf, die es beim Essen nicht leicht hatten, ihre abendliche Dosis Ballaststoffe und Vitamine. Der Rest von uns bekam bissfesteres Gemüse. Alle trugen Pyjamas: Jean-Claudes war gestreift, und er trug einen gestreiften Frotteebademantel darüber, Françine kam in ihrem Rollstuhl in einem rosa Hausmantel, Gégé in blauen Jersey-Dr. Dentons, mit einem kleineren, gestreiften Bademantel über seinem gekrümmten Körper, aber nie ganz ordentlich, den Gürtel schleppte er hinter sich her wie ein vergessene Aufgabe, und natürlich Lorenzo, der sprachlose italienische Eisenbahn-Fan, in einem prächtigen Bademantel mit seidenen Paspeln und Posamenten an den Ärmeln, ein Geschenk von solch atemberaubendem Luxus für einen Mann mit solch zerstörtem Geist, der mitten im Raum still stand, bewegungslos, die Arme ausgestreckt, und wartete, erwartungsvoll wie immer. Aber worauf wartete er? Auf das, was man nicht wissen konnte. Er war überhaupt nicht anders als wir alle, nehme ich an. Auf diese Weise verwandelten die Bewohner das Leben in diesem Haus in Theater. Alles, was man tun musste, um die Tiefe dieser Aufführung schätzen zu lernen, war, sorgfältig hinzuschauen und darüber nachzudenken, was man da sah.
    Das Gespräch wanderte um den Tisch herum: Wenn Jean-Claude rülpste, was häufig geschah, verzog Garry Webb das Gesicht und machte einen Witz oder zumindest ein ähnliches Geräusch. Garry improvisierte jeweils und nutzte dabei seine Ausbildung als Schauspieler. Beim Nachtisch – Eiscreme und Schokoladensauce – hatte Gégé am Ende einen Schokoladen-Schnurrbart. Sofort legte Garry los. »Ah, du hast einen Schnurrbart! Hallo, Sir. Sind Sie – eine Krähe? Sind Sie Corneille?« (Er meinte Pierre Corneille, den französischen Dramatiker des siebzehnten Jahrhunderts, der einen auffallenden dunklen Schnurrbart und ein Unterlippenbärtchen trug.) »Vielleicht sind Sie ein mexikanischer Bandit! Ja – Sancho! Zieh!« Garry machte auch seinen Fingern eine Pistole und tat so, als wollte er Gégé erschießen. Inzwischen lachten alle am Tisch und musterten Gégé, die Zielscheibe dieses Scherzes. Er sah Garry mit unbewegtem Gesicht an. Und dann begann er ganz leise ein Geräusch zu machen, das wie Luft klang, die in Schüben aus einem Ballon entweicht. Er lachte. Die Art, wie Garry Gégé neckte, war nicht anders als die irgendeines anderen, normalen Paars von Freunden, wenn einer von ihnen rülpste oder sich Schokolade ins Gesicht schmierte. Garry hatte eine besondere Verbindung zu Gégé: Er band ihm das Lätzchen um, gab

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