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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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allerdings«, sagte der alte Mann und nickte bedächtig.
    »Und für jeden Baum, den er fällt, pflanzt er zehn neue«, fügte Noah noch hinzu. »Das heißt, eigentlich ist das Fällen eine gute Sache.«
    »Das heißt, eines Tages, wenn du so alt bist wie ich jetzt, kannst du an diesen Bäumen vorbeigehen und an deinen Vater denken, so wie ich an meinen denke.«
    Noah nickte, doch dann verzog er das Gesicht. Solche Gedanken wollte er lieber nicht denken.
    »Dabei fällt mir ein – ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, sagte der alte Mann unvermittelt, streckte dem Jungen die Hand hin und nannte seinen Namen.
    »Noah Barleywater«, sagte Noah.
    »Schön, dich kennenzulernen, Noah Barleywater«, sagte der alte Mann mit einem leisen Lächeln.
    Der Junge wollte etwas Höfliches erwidern und machte schon den Mund auf, schloss ihn aber gleich wieder, weil eine hölzerne Mücke ihm um den Kopf herumsurrte und nur auf eine Gelegenheit wartete, in seinen Mund zu fliegen. Deshalb schwieg er lieber und starrte den alten Mann wortlos an, bis es ihm vorkam, als würde er seine eigenen Haare wachsen hören. Da kramte er schnell in seinem Gehirn und fand die nächste Frage. Sie hatte sich direkt über seinem linken Ohr versteckt.
    »Was schnitzen Sie da?«, fragte er mit einem Blick auf das Holzstück, das der alte Mann jetzt wieder in die Hand genommen hatte, um daran herumzuschnippeln. Kleine Holzspäne fielen ihm vor die Füße und wurden von einer hölzernen Bürste und einer Kehrschaufel, die so elegant wie ein Turniertanzpaar über den Fußboden hinwegfegten, blitzschnell aufgehoben und weggebracht.
    »Sieht aus wie ein Kaninchen, stimmt’s?«, sagte der alte Mann. Er hielt das Holzstück hoch, und tatsächlich, es sah aus wie ein Kaninchen. Mit riesigen Ohren und mit feinen hölzernen Schnurrhaaren. »Das war zwar nicht meine Absicht, aber so ist es nun mal«, fügte er mit einem Seufzer hinzu. »So ist das jedes Mal. Ich beginne mit einer bestimmten Vorstellung im Kopf, und heraus kommt etwas völlig anderes.«
    »Was sollte es am Anfang werden?«, fragte Noah.
    »Ach«, seufzte der alte Mann. Dann summte er lächelnd eine leise Melodie vor sich hin. »Ich weiß nicht, ob du mir glaubst, wenn ich es dir sage.«
    »Ich würde Ihnen garantiert glauben«, sagte Noah schnell. »Meine Mutter sagt immer, ich glaube alles, was man mir sagt, und deshalb gerate ich oft in Schwierigkeiten.«
    »Willst du es tatsächlich wissen?«, fragte der alte Mann.
    »Bitte, sagen Sie es mir!«, bat Noah, der jetzt richtig neugierig wurde.
    »Du bist keine Plaudertasche, oder?«, fragte der alte Mann. »Du rennst nicht los und erzählst es allen Leuten?«
    »Nein, auf keinen Fall«, antwortete Noah. »Ich erzähle es keiner Menschenseele.«
    Der alte Mann lächelte wieder und schien zu überlegen. »Ich frage mich, ob ich dir vertrauen kann«, sagte er leise. »Was meinst du? Bist du ein vertrauenswürdiger kleiner Junge, Noah Barleywater?«

Kapitel 6 Die Uhr, die Tür und eine Kiste mit Erinnerungen
    Noah hatte gar nicht die Möglichkeit, dem alten Mann zu versichern, dass er sehr vertrauenswürdig sei, denn genau in dem Moment gab die Uhr, die auf der Theke neben ihm stand, plötzlich sehr merkwürdige Töne von sich. Zuerst war es ein leises Jammern, als würde die Uhr sich nicht gut fühlen und als wollte sie am liebsten ins Bett gehen und sich unter der Decke verkriechen, bis die Schmerzen aufhörten. Dann war es kurz still, aber gleich darauf verwandelte sich das Gejammer in einen
Chacka-chacka-chacka-
Rhythmus, der überging in ziemlich peinliche Knurrgeräusche, ein Geratter und Geknatter, als würden sich die Zahnräder und Federn in ihr fürchterlich streiten und wären kurz davor, aufeinander loszugehen.
    »Ach, du meine Güte«, sagte der alte Mann und schaute die Uhr an. »Wie peinlich! Du musst mir verzeihen.«
    »Ich soll
Ihnen
verzeihen?«, fragte Noah überrascht. »Das war doch die Uhr, die diese Geräusche macht.«
    Sofort gab die Uhr ein beleidigtes Quieken von sich, und Noah musste kichern, hielt sich aber vorsichtshalber die Hand vor den Mund. Die Geräusche der Uhr erinnerten ihn an Charlie Charlton, dessen Magen immer ganz komisch knurrte, wenn die Mittagessenszeit näherrückte, und dieses Knurren veranlasste dann Miss Bright, auf die Uhr zu sehen und zu rufen: »O je! Schon so spät? Zeit fürs Mittagessen!«
    Aber als Noah anfing zu kichern, meldete sich augenblicklich der Teil von ihm, der ihm gesagt hatte,

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