Der Junge mit dem Herz aus Holz
er solle von zu Hause weglaufen. Und schon bekam er ein schlechtes Gewissen, obwohl er doch eigentlich nur gegrinst hatte. Er hatte schon so lange nicht mehr richtig gelacht, dass er sich vorkam wie ein Igel, der nach einem monatelangen Winterschlaf wieder aufwacht und gar nicht mehr weiß, ob die Dinge, die ihm Spaß machen, überhaupt die Dinge sind, die er tun darf. Noah schüttelte schnell den Kopf und schleuderte das Lachen aus seinem Mund hinaus, so dass es in der Ecke des Spielzeugladens auf einem Haufen Holzklötze landete und erst am Ende des nächsten Winters wiedergefunden wurde.
»Das ist eine sehr spezielle Uhr«, sagte Noah und beugte sich vor, um sie näher zu betrachten. Sofort blieb der Sekundenzeiger stehen, und erst als Noah ein Stück zurückwich und den Blick abwandte, bewegte sich der Zeiger wieder, aber er lief schneller als vorher, um die Pause wettzumachen und dahin zu kommen, wo er sein sollte.
»Am besten sollte man nicht zu lange hinschauen«, sagte der alte Mann und nickte weise. »Alexander kann das nicht leiden. Das bringt ihn aus dem Takt.«
»Alexander?«, fragte Noah. Er schaute sich um, weil er dachte, da sei noch jemand, den er bis jetzt nicht bemerkt hatte. »Wer ist Alexander?«
»Alexander ist meine Uhr«, sagte der alte Mann. »Und er ist sehr unsicher – was eigentlich überraschend ist, denn im Allgemeinen habe ich eher den Eindruck, dass Uhren ziemliche Angeber sind, immer in Bewegung, immer am Ticken, als hinge ihr Leben davon ab. Aber bei Alexander ist das anders. Ihm ist es lieber, wenn man ihn nicht beachtet, ehrlich gesagt. Und er ist ganz schön launisch. Er ist Russe, musst du wissen, und die Russen sind komische Menschen. Ich habe ihn in St. Petersburg entdeckt, im Winterpalais des Zaren. Das ist schon ein paar Jährchen her, versteht sich, aber Alexander läuft immer noch einwandfrei und ist nicht aufzuhalten, vor allem, wenn man sich mit ihm über Politik oder Religion unterhält – da ist er immer richtig aufgedreht.«
»Ich wollte ihn auf keinen Fall beleidigen«, versicherte Noah, der nicht recht wusste, was er von der ganzen Sache halten sollte. »Er hat nur so komische Geräusche von sich gegeben.«
»Ach, das kommt daher, dass es jetzt Zeit fürs Mittagessen ist«, sagte der alte Mann und klatschte begeistert in die Hände. »Alexander erinnert mich daran, indem er so tut, als würde ihm der Magen knurren. Das ist seine Art von Humor. Die Russen sind lustig, findest du nicht?«
»Aber Uhren haben keinen Magen!« Noah klang verdutzt.
»Nein?«
»Nein. Sie haben ein Pendel oder eine Unruh. Und etwas, das man Oszillator nennt. Der erzeugt elektrische Schwingungen und sorgt dafür, dass alles präzise läuft. Mein Onkel Teddy hat mir zu meinem letzten Geburtstag einen Bastelkasten geschenkt, auf dem stand
Bastle deine eigene Uhr – in vierundzwanzig Stunden
. Ich habe zwei Wochen lang versucht, die Uhr zusammenzusetzen.«
»Ach, tatsächlich? Und wie sah das Ergebnis aus?«
»Nicht besonders gelungen. Die Uhr geht nur zweimal am Tag richtig, und an manchen Tagen nicht mal das.«
»Verstehe«, sagte der alte Mann. »Aber offenbar weißt du trotzdem sehr viel über Uhren.«
»Ja, ich mag Wissenschaft und Technik«, erklärte Noah. »Vielleicht werde ich mal Astronom. Das ist einer von den Berufen, die ich mir überlege.«
»Gut, dann glaube ich dir jetzt mal«, sagte der alte Mann. »Ich habe zwar immer gedacht, es ist Alexanders Magen, der da knurrt, aber vielleicht habe ich mich geirrt. Wie dem auch sei – auf jeden Fall ist es Zeit fürs Mittagessen.«
»Ich dachte, Sie haben schon gegessen«, sagte Noah, dessen Herz beim Gedanken an ein Mittagessen schon leise zu jubeln begann. Es war so lange her, dass er etwas gegessen hatte! Allmählich befürchtete er schon, er könnte gleich in Ohnmacht fallen.
»Ich habe einen kleinen Imbiss zu mir genommen, mehr nicht«, sagte der alte Mann. »Reste von einem Hühnchen. Und einen Gartensalat. Und ein paar Würstchen, die schlecht geworden wären, wenn ich sie nicht heute gegessen hätte. Und ein Käsesandwich. Und danach ein Stück Kuchen, weil ich dachte, ich könnte was Süßes vertragen. Nicht gerade eine gehaltvolle Mahlzeit, würde ich sagen. Aber wie dem auch sei – ich nehme an, du bist hungrig, stimmt’s? Schließlich bist du sehr früh von zu Hause weggegangen.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Noah überrascht.
»Nun – ich sehe es am Zustand deiner Schuhe.«
»Sie sehen es am
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