Der Junge mit dem Herz aus Holz
fuhr der alte Mann fort. »Möchtest du etwas kaufen?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Noah mit gesenktem Blick, weil er sich ein bisschen schämte. »Ich habe leider kein Geld dabei.« Bei seinen Füßen kauerte eine Holzmaus, die grau und rosarot angemalt war und an seinen Schuhspitzen schnupperte, aber sobald sie merkte, dass Noah sie anschaute, quiekte sie erschrocken und rannte weg, um sich hinter den Beinen der Holzgiraffe zu verstecken, die in der Ecke des Ladens stand.
»Darf ich wissen, was dich hierherführt? Müsstest du nicht in der Schule sein?«
»Nein. Ich gehe nicht mehr in die Schule«, antwortete Noah.
»Aber du bist doch noch ein Kind«, sagte der alte Mann. »Und Kinder müssen in die Schule gehen. Oder haben sie etwa die Gesetze geändert, seit ich in deinem Alter war? Andererseits – ich darf eigentlich gar nichts sagen, ich bin ja selbst nur selten in die Schule gegangen. Ich bin immer irgendwie abgehauen. Du ahnst gar nicht, wie viel Ärger ich deswegen bekommen habe.«
»Was für Ärger?«, erkundigte sich Noah, der das richtig spannend fand, weil er immer gern erfuhr, in welche Schwierigkeiten andere Leute gerieten.
»Ach, mit leerem Magen rede ich nie über die Vergangenheit«, sagte der alte Mann. »Und ich habe noch nicht zu Mittag gegessen.«
»Aber Sie haben gesagt –«
»Wie dem auch sei – ich möchte gern hören, was dich hierherführt.«
»Also zuerst war es der Baum«, antwortete der Junge. »Der Baum draußen vor der Tür. Ich stand auf der anderen Straßenseite und habe ihn angeschaut und gedacht, das ist aber echt der imposanteste Baum, den ich je in meinem Leben gesehen habe. Ich weiß nicht genau, warum. Aber ich hatte einfach so ein Gefühl.«
»Freut mich, dass dir der Baum gefällt«, sagte der alte Mann. »Mein Vater hat ihn gepflanzt, weißt du. An dem Tag, an dem wir hierhergezogen sind. Er liebte Bäume über alles. Er hat noch andere Bäume im Dorf gepflanzt, aber ich glaube, der Baum hier beim Laden ist der schönste von allen. Die Leute erzählen ungewöhnliche Geschichten über ihn.«
»Ja, ich glaube, ich habe schon eine gehört«, sagte Noah voller Eifer.
»Tatsächlich?« Der alte Mann zog eine Augenbraue hoch. »Darf ich fragen, von wem?«
»Auf der anderen Straßenseite bin ich einem sehr hilfsbereiten Dackel begegnet«, antwortete Noah. »Und einem sehr hungrigen Esel. Der Dackel hat mir erzählt, dass der Baum immer wieder nachts kahlgerupft wird, und innerhalb von ein, zwei Tagen bekommt er neue Zweige. Er hat gesagt, niemand weiß, wie und warum das so ist.«
»Ach ja, er steckt voller Geschichten, unser Dackel«, sagte der alte Mann lachend. »Er ist ein alter Freund von mir. Aber ich würde nicht unbedingt alles glauben, was er sagt. Dackel erfinden die verrücktesten Geschichten. Und was den Esel betrifft – da sollte ich lieber gar nicht erst anfangen. Während die meisten Leute mit zwölf bis fünfzehn Mahlzeiten am Tag auskommen, braucht er mindestens drei- oder viermal so viele, sonst wird er weinerlich.«
»Zwölf bis fünfzehn Mahlzeiten am Tage?«, fragte Noah verwundert. »Ich muss sagen, dass ich noch nie –«
»Wie dem auch sei –«, unterbrach ihn der alte Mann, »von den Leuten, die etwas über den Laden erzählen, hat noch keiner auch nur einen Fuß hier reingesetzt, das kannst du mir glauben.«
»Ehrlich wahr?«, fragte der Junge.
»Das heißt, bis jetzt«, sagte der alte Mann lächelnd. »Du bist der Erste. Vielleicht bist du aus einem bestimmten Grund hierhergeschickt worden. Mein Vater ist jetzt natürlich schon viele Jahre tot, deshalb hat er leider nie die Chance gehabt zu sehen, wie groß und kräftig der Baum geworden ist.« Ein Schatten huschte über das Gesicht des alten Mannes, als er das sagte. Einen Moment lang wirkte er ganz bedrückt, als würden ihn traurige Erinnerungen quälen.
»Mein Vater ist Holzfäller«, sagte Noah schnell. »Er verdient sein Geld damit, dass er Bäume fällt.«
Abb. 3 Eine AXT in einem Baumstumpf
»Ach, du gute Güte«, sagte der alte Mann. »Heißt das, er mag sie nicht?«
»Ich glaube, er mag sie sogar sehr«, erwiderte Noah. »Aber die Menschen brauchen Holz, stimmt’s? Sonst gäbe es keine Häuser, in denen man wohnen kann, es gäbe keine Stühle, auf denen man sitzen kann, und … und …« Er überlegte, was sonst noch alles aus Holz war, schaute sich um und grinste. »Und keine Marionetten!«, rief er. »Es gäbe keine Marionetten.«
»Das stimmt
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