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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Zustand meiner Schuhe?« Er blickte auf seine Füße hinunter und fand, dass alles ganz normal aussah. »Wie können Sie meinen Schuhen ansehen, wann ich von zu Hause weggegangen bin?«
    »Schau dir die Sohlen an«, sagte der alte Mann. »Sie sind immer noch feucht, und es kleben kleine Grashalme an ihnen, die aber schon abfallen und überall hier auf meinem Fußboden rumliegen. Das heißt, du musst durch Gras gelaufen sein, und zwar als noch der Tau auf den Wiesen lag.«
    »Aha.« Noah überlegte. »Ja, das stimmt. Aber darauf wäre ich nie gekommen.«
    »Wenn man schon so viele Schuhpaare abgetragen hat wie ich, fängt man an, sich für das Schuhwerk anderer Leute zu interessieren«, sagte der alte Mann. »Das ist eine Marotte von mir, mehr nicht. Harmlos, hoffe ich. Wie dem auch sei – würdest du gern etwas essen? Ich habe nicht viel, aber –«
    »Sehr gern«, antwortete Noah schnell. Seine Miene hellte sich auf. »Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen.«
    »Tatsächlich? Kriegst du zu Hause nichts?«
    »Doch«, erwiderte Noah nach kurzem Zögern. »Die Sache ist nur – ich bin schon vor dem Frühstück weggegangen.«
    »Und warum, wenn ich fragen darf?«
    »Na ja – es war nichts zu essen im Haus«, antwortete Noah, was allerdings gelogen war.
    Der alte Mann schaute Noah an, als würde er ihm kein Wort glauben, und der kleine Junge spürte, dass er rot anlief. Schnell drehte er sich weg, aber dann begegnete er dem Blick einer der Marionetten an der Wand, die ihrerseits sofort den Kopf wegdrehte, als könnte sie den Anblick eines Jungen, der schon vor dem Mittagessen Lügen erzählt, nicht ertragen.
    »Wenn du so großen Hunger hast«, sagte der alte Mann schließlich, »dann sollte ich dir jetzt mal was zu essen geben. Komm doch mit nach oben – da finde ich bestimmt etwas, was dir schmeckt.«
    Er ging zum anderen Ende des Ladens und streckte die rechte Hand aus. Genau in dem Moment erschien in der Wand ein Türknauf, den der alte Mann drehte, und schon öffnete sich eine Tür. Durch sie gelangte man zu einer Treppe, die nach oben führte. Vor Staunen blieb Noah der Mund offen stehen – er war sich ganz sicher, dass die Tür vorher nicht da gewesen war. Er schaute von der Tür zu dem alten Mann und dann wieder zur Tür. Wahrscheinlich wäre es noch eine ganze Weile so hin und her gegangen, wenn der alte Mann dem Wahnsinn nicht Einhalt geboten hätte.
    »Wie sieht’s aus?«, fragte er, an Noah gewandt. »Kommst du mit?«
    Noah zögerte noch. Seit er denken konnte, hatte man ihm eingetrichtert, dass ein Junge, der mit jemandem, den er überhaupt nicht kennt, einen unbekannten Flur entlanggeht, sehr dumm ist. Vor allem, wenn kein Mensch weiß, wo er ist. Sein Vater hatte ihm überhaupt immer gesagt, die Welt sei ein gefährlicher Ort, aber seine Mutter hatte widersprochen und gesagt, er solle dem Jungen keine Angst einjagen und Noah müsse nur einfach immer daran denken, dass nicht jeder, der nett scheint, auch wirklich nett ist.
    »Du zögerst«, sagte der alte Mann leise, als könnte er Noahs Gedanken lesen. »Das ist gut so. Aber glaub mir, hier gibt es nichts, wovor du dich fürchten musst. Nicht einmal vor meinen Kochkünsten. Als junger Mann bin ich oft durch Paris gekommen und habe mir von einem der besten Chefköche ein paar Tipps geben lassen, und wenn ich das mal sagen darf – in puncto Rührei kann ich mit jedem mithalten.«
    Noah war sich immer noch nicht sicher, ob es richtig war oder nicht, aber sein knurrender Magen klang wie der Magen der Uhr, die ihn verächtlich musterte und mit einem Fuß ungeduldig auf die Theke klopfte. Weil er solchen Hunger hatte, nickte Noah schnell, dann rannte er los und folgte dem alten Mann durch die offene Tür.
    Und schon stand er am Fuß einer schmalen Treppe. Genau wie die Marionetten im Laden waren auch die Stufen und die Wände aus Holz. Das Geländer war mit kunstvollen Schnitzereien verziert, und als Noah sie mit den Fingerspitzen berührte, fand er, dass sich die Rillen und Kerben sehr angenehm anfühlten. Sie waren so schön glatt und gleichmäßig, als wären sie ganz behutsam ins Holz geschnitzt und dann mit einem Hobel geglättet worden, damit man sich nicht aus Versehen einen Splitter holte. Zu Noahs Verwunderung führte die Treppe aber nicht direkt nach oben, wie bei ihm zu Hause, sondern ging im Kreis herum, so dass er den alten Mann immer wieder aus den Augen verlor, weil er ihn nur sehen konnte, wenn er höchstens zwei Stufen vor

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