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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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ihm war.
    Sie stiegen höher und höher, immer im Kreis. Noah fragte sich schon, wie hoch hinauf es eigentlich gehen konnte. Von außen hatte das Haus so ausgesehen, als wäre über dem Laden höchstens noch ein Stockwerk. Aber jetzt schien es endlos weiter nach oben zu gehen.
    »Das sind ja schrecklich viele Stufen«, sagte Noah, und seine Stimme wackelte ein bisschen, weil er außer Atem war. »Strengt es Sie nicht an, wenn Sie die jeden Tag rauf- und runtergehen?«
    »Es strengt mich mehr an als früher, so viel ist sicher«, gab der alte Mann zu. »Als ich jünger war, konnte ich die Treppe tausendmal am Tag rauf- und runterrennen, und ich habe es gar nicht gemerkt. Aber das hat sich geändert. Ich brauche jetzt viel länger für alles. Das hier sind übrigens zweihundertsechsundneunzig Stufen. Oder zweihundertvierundneunzig. Es sind genau so viele wie im Schiefen Turm von Pisa. Ich weiß nicht, ob du mitgezählt hast.«
    »Ich habe nicht mitgezählt«, sagte Noah. »Aber wie viele sind es nun, zweihundertsechsundneunzig oder zweihundertvierundneunzig? Was stimmt?«
    »Beides«, sagte der alte Mann. »Die Treppe hat auf der Nordseite zwei Stufen weniger als auf der Südseite. Das heißt, es kommt darauf an, aus welcher Richtung man kommt. Du warst schon mal in Italien, nehme ich an?«
    »Oh, nein.« Noah schüttelte den Kopf. »Nein. Ich war noch nie irgendwo. Ehrlich gesagt, weiter als jetzt war ich noch nie von zu Hause weg.«
    »Ich habe sehr glückliche Zeiten in Italien erlebt«, sagte der alte Mann wehmütig. »Eine Weile habe ich ganz in der Nähe von Pisa gelebt, und jeden Morgen bin ich zum Turm gelaufen und die Treppe hinauf- und hinuntergerannt, um in Form zu bleiben. Was für schöne Erinnerungen!«
    »Sie waren schon an vielen verschiedenen Orten, stimmt’s?«, bemerkte Noah.
    »Ja, das stimmt, ich bin sehr gern gereist, als ich jung war. Ich konnte nicht stillsitzen. Jetzt ist natürlich alles anders.« Er drehte sich um und schaute den Jungen an. »Ich glaube, du hast das Treppensteigen satt, oder?«
    »Ja, schon«, gab Noah zu.
    »Also gut«, sagte der alte Mann. »Dann bleiben wir am besten gleich hier.«
    Kaum hatte er das gesagt, da hörte Noah schwere Schritte hinter sich auf der Treppe. Er hielt den Atem an. Unten war außer ihnen niemand gewesen, da war er sich ganz sicher. Ein bisschen verängstigt drehte er sich um. Wer oder was kam da angerannt? Dann schnappte er verdutzt nach Luft und drückte sich ans Geländer. Die Tür, durch die sie den Laden verlassen hatten, kam jetzt keuchend und pustend hinter ihnen her und überholte Noah, das Gesicht feuerrot vor Verlegenheit.
    »Entschuldigung! Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, japste die Tür und drückte sich fest in die Wand vor Noah. »Ich habe mich mit der Uhr unterhalten und die Zeit vergessen. Diese Uhr macht ohne Pause weiter, wenn sie erst mal loslegt, stimmt’s?«
    »Keine Sorge, Henry, alles ist in bester Ordnung«, sagte der alte Mann und drehte den Türknauf. »Ich kann mir leider zur Zeit keine zweite Tür leisten«, fügte er hinzu und schaute Noah mit einem entschuldigenden Lächeln an. »Deshalb muss ich irgendwie mit dieser einen hier auskommen. Es ist mir furchtbar peinlich, aber in den letzten Jahrzehnten gingen die Geschäfte nur sehr schleppend.«
    Noah wusste wieder einmal nicht recht, was er sagen sollte, und blieb noch eine ganze Weile im Treppenhaus stehen, bis er die Überraschung endlich abschütteln konnte. Dann schaute er durch Henry hindurch in eine kleine Küche, die ordentlich und chaotisch zugleich wirkte, falls so etwas möglich war. Aber als er auf den Fußboden schaute, stellte er verwundert fest, dass nur ungefähr ein Drittel der notwendigen Dielen vorhanden war. Große Lücken klafften zwischen den einzelnen Brettern, und die Lücken waren breit genug, um einen achtjährigen Jungen zu verschlucken. Noah schaute zwischen den Dielen durch, konnte aber nichts sehen, nur tiefste Dunkelheit. Das war ziemlich verwunderlich, weil die Decke im Erdgeschoss vollkommen normal gewesen war.
    »Nun, wollen wir reingehen?«, fragte der alte Mann und trat einen Schritt beiseite, um Noah den Vortritt zu lassen. Er legte großen Wert auf gute Manieren.
    »Aber der Fußboden!«, stöhnte Noah. »Wenn ich da reingehe, falle ich durch die Ritzen.«
    »Ach ja, stimmt«, sagte der alte Mann. »Ich hätte es dir erklären sollen. Ich habe ein paar Holzdielen gebraucht, als ich letztes Jahr kein Feuerholz mehr für den

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