Der Junge mit dem Herz aus Holz
Augenblick ein fröhliches
Pling
über der Tür, die ein paar Schritte hinter ihm jetzt wieder aufgetaucht war.
»Die Glocke ist zu alt«, erklärte der alte Mann achselzuckend. »Das wäre gar nicht so schlimm, aber das bisschen Geklingel ist wirklich das Einzige, was sie den ganzen Tag über machen soll, und manchmal vergisst sie es trotzdem. Vielleicht hat sie ja auch gar nicht für dich gebimmelt. Es könnte auch für einen Kunden vom letzten Jahr gewesen sein.«
Vor Staunen blieb Noah der Mund offen stehen. Er schaute zu der Glocke, dann wieder zu dem alten Mann und schluckte wieder heftig, weil er nicht wusste, was er fragen könnte, um zu begreifen, was sich da gerade abgespielt hatte.
»Jedenfalls möchte ich mich bei dir dafür entschuldigen, dass du warten musstest«, sagte der alte Mann, »aber ich bewege mich in letzter Zeit leider sehr langsam vom Fleck, so langsam wie eine Schnecke. Früher, in meiner Jugend, war das komplett anders. Da hat man mich gar nicht richtig gesehen, nur eine Staubwolke. Nicht einmal Dmitri Capaldi hätte mit mir mithalten können.«
Noah zuckte ebenfalls die Achseln. »Kein Problem«, sagte er. »Ich bin noch nicht lang hier. Als ich reingekommen bin, war’s noch nicht mal elf – oh!« Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass es bereits kurz vor zwölf Uhr mittags war. »Aber das kann doch nicht sein!«
»Doch, doch, das kann schon sein«, sagte der alte Mann. »Du hast das Zeitgefühl verloren, sonst nichts.«
»Eine ganze Stunde?«
»So was gibt’s. Ich habe mal ein ganzes Jahr verloren – kannst du dir das vorstellen? Ich habe es hier irgendwo abgelegt, und als ich es später holen wollte, konnte ich es nirgends finden. Aber ich habe das Gefühl, eines schönen Tages taucht das Jahr wieder auf, gerade wenn ich es am wenigsten erwarte.«
Noah runzelte ratlos die Stirn, weil er nicht sicher war, ob er den Mann richtig verstanden hatte. »Wie kann man ein ganzes Jahr verlieren?«
»Ach, nichts leichter als das«, sagte der alte Mann und legte das Holzstück weg, das er in der linken Hand gehalten hatte, und ebenso das Schnitzmesser, das er in der rechten Hand gehalten hatte. Dann nahm er seine Brille ab und rieb die Gläser mit einem regenbogenfarbenen Taschentuch sauber. »Aber vielleicht war es auch gar kein Jahr. Vielleicht war es ein Ohr.« Er presste beide Hände seitlich an den Kopf und zupfte an seinen Ohrläppchen. »Nein, alles am richtigen Platz«, stellte er zufrieden fest. »Es war eindeutig ein Jahr. Kein Grund zur Sorge.«
Noah starrte den alten Mann an. Wovon redete er? Für ihn klang das, was er sagte, komplett unlogisch, aber er hatte den Verdacht, dass alles noch verwirrender würde, wenn er Fragen stellte.
»Das kommt bestimmt von den vielen Spielsachen hier«, sagte Noah und deutete auf die Wände um ihn herum. »Ich habe sie sehr lang angeschaut, nehme ich an. Und dann die ganzen Marionetten! Es sind so viele, dass sie mich gar nicht mehr losgelassen haben.«
»Da haben wir’s wieder«, seufzte der alte Mann. »Gib ruhig den Marionetten die Schuld! Alle Leute tun das.«
»Ich gebe ihnen doch nicht die Schuld«, sagte Noah. »Ich wollte nur sagen, dass ich total von ihnen gefesselt war, mehr nicht. Sie wirken so lebendig. Und da ist die Zeit einfach wie von selbst davongelaufen.«
»Wichtig ist eigentlich nur, dass du jetzt hier bist«, sagte der alte Mann, und auf seinem Gesicht erschien wieder ein freundliches Grinsen. »Weißt du – es ist sehr lange her, dass ich Kundschaft hatte. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, was ich mit einem Kunden machen soll. Leider haben wir kein offizielles Begrüßungspersonal mehr.«
»Das macht nichts«, sagte Noah, der immer Mitleid mit den Leuten hatte, die vor einem Laden standen und
Willkommen bei … Willkommen bei … Willkommen bei …
murmelten. Seiner Meinung nach war das ein ziemlich öder Zeitvertreib.
»Wenn ich es geschafft hätte, schneller nach oben zu kommen, dann hätte ich dich selbstverständlich zum Mittagessen eingeladen. Aber dafür ist es jetzt zu spät.«
Noahs Gesicht wurde ganz traurig. Sein Magen knurrte unüberhörbar, und er hustete kräftig, um die peinlichen Geräusche zu übertönen. Aber dann hatte er eine bessere Idee: Wenn der alte Mann seinen Magen knurren hörte, überlegte er es sich vielleicht anders und bot ihm doch etwas zu essen an.
»Wie dem auch sei – jetzt bist du hier, und du hast bestimmt einen Grund, weshalb du hergekommen bist«,
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