Der Junge mit dem Herz aus Holz
Singvögel mitzwitschern. Aber wie dem auch sei – dass du von zu Hause weggelaufen bist, das stimmt doch, oder?«
»Ja, das stimmt«, gab Noah zu.
»Und möchtest du mir sagen, warum?«
Noah schüttelte nur den Kopf und griff wieder in die Kiste. Diesmal holte er eine Puppe von einem Mann in einem Trainingsanzug heraus. Er zog an den Fäden, und die Trillerpfeife, die der Mann in der linken Hand hielt, ging an seine Lippen und machte kurz und schrill
Piep-piep
, obwohl es völlig unerklärlich war, woher der Mann die Luft dafür nahm.
»Wie ungewöhnlich!«, rief Noah Barleywater.
»Ach, das ist Mr Wickle«, sagte der alte Mann lachend. »Wenn er nicht gewesen wäre, dann hätten sich viele Dinge, die mir später im Leben widerfahren sind, vielleicht ganz anders entwickelt. Er hat mich nämlich überhaupt erst auf die Idee gebracht, musst du wissen.«
»Auf welche Idee?«, fragte Noah.
»Auf die Idee zu laufen«, erwiderte der alte Mann. »In meiner Jugend war ich ein phantastischer Läufer. Wenn man sieht, wie langsam ich heute die Treppe hinauf- und hinunterschleiche, würde man es nie denken, aber ich war auf der ganzen Welt berühmt. Und Mr Wickle hat als Erster gemerkt, wie schnell ich bin.«
Kapitel 9 Das Wettrennen
Nach ein paar Wochen (sagte der alte Mann) dachte ich immer öfter, es wäre eine gute Idee, die Schule aufzugeben, weil nichts klappte. Ich hatte keine richtigen Freunde, und Toby Lovely machte mir das Leben zunehmend zur Hölle. Einmal sägte er die Beine meines Stuhls ab, und als ich mich hinsetzte, plumpste ich auf den Boden und tat mir weh. Am nächsten Tag stellte er einen Eimer mit Farbe über die Tür, und als ich hereinkam, kippte alles auf mich runter, und ich musste in einer Woche zweimal baden. Toby klaute mir die Hausaufgaben und aß meine Äpfel, er verknotete die Schnürsenkel meiner Stiefel und sprach meinen Namen falsch aus. Er sagte, ich käme aus dem Weltall und hätte statt eines Gehirns nur Wackelpudding im Kopf. Er stopfte mir hinten einen Frosch in die Hose und vorne ein Frettchen, was eigentlich viel spaßiger war, als er gedacht hatte. Ach, ich könnte ewig weiter aufzählen, so viele furchtbare Sachen hat er mir angetan. Einmal ging er einen ganzen Nachmittag neben mir her und trug einen Pullover mit einem Pfeil, der in meine Richtung zeigte und unter dem stand:
Neben mir geht der Depp.
Mittwochmorgens redete er immer Japanisch mit mir, eine Sprache, die er wirklich gut beherrschte, und ich schnappte mit der Zeit auch ein paar Wörter auf. Er streute Salz in meinen Haferbrei und Zucker auf mein Frühstücksbrot. Er überredete alle Kinder in der Klasse, an einem bestimmten Tag mit einer Mütze auf dem Kopf in die Schule zu kommen, und ich war der Einzige, der nichts davon wusste. Er schickte mir Blumen und dazu eine Karte, auf der stand:
Tausend Küsse von Alice.
Es war schrecklich, schrecklich, schrecklich. Mit der Zeit bekam ich richtig Angst, in die Schule zu gehen, und konnte mir nicht vorstellen, dass alles noch schlimmer werden könnte.
Bis es noch schlimmer wurde.
Es war ein Dienstagmorgen. Mrs Shields wanderte durchs Klassenzimmer und fragte uns, welchen Beruf wir später gern ausüben wollten, was vielleicht etwas verfrüht war, weil wir ja alle erst acht Jahre alt waren, aber sie meinte, wir sollten ruhig schon anfangen, unsere Zukunft zu planen. Sie fragte nicht nur, was wir werden wollten, wenn wir groß waren, sondern auch, was unsere Eltern machten.
»Mein Vater ist ein internationaler Filmstar«, sagte Marjorie Willingham, »und meine Mutter ist Astronautin. Ich möchte gern Hubschrauberpilotin werden.«
»Sehr gut, Marjorie«, sagte Mrs Shields und nickte anerkennend. »Und du, Jasper Bennett? Was machen deine Eltern?«
»Mein Vater arbeitet an einem Heilmittel für Schnupfen, meine Mutter ist Pferdeflüsterin. Und mein Ziel ist das Priestertum.«
»Und wenn du es dir fest vornimmst, dann wirst du alle deine Ziele erreichen«, verkündete die Lehrerin fröhlich. »Matthew Byron, wie sieht es bei dir aus?«
»Mein Vater ist der Chef der Armee«, sagte Matthew, »und meine Mutter hilft den Leuten, dass sie keine Einkommensteuer bezahlen müssen. Ich will Profifußballer werden. Das mache ich, bis ich vierunddreißigeinhalb bin – und danach werde ich es anstreben, der offizielle Hofdichter des Königshauses zu werden.«
»Ein ehrgeiziger Plan!« Mrs Shields lächelte. »Toby Lovely – deine Eltern sind bestimmt auch großartige
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