Der Junge mit dem Herz aus Holz
habe es mir schon gedacht. Kommst du bitte mit mir?«
»Ich kann nicht«, erklärte Noah. »Ich warte auf meine Mama.«
»Das weiß ich«, sagte die Frau. »Deine Mama fühlt sich nicht so gut, das ist alles, du musst dir deswegen keine Sorgen machen. Sie wartet auf dich im Sanitätszelt. Sie hat mich gebeten, dich zu suchen.«
Erst sagte Noah gar nichts. Er war sich sicher, dass die ganze Welt sich gegen ihn verschworen hatte und ein Geheimnis teilte, in das er als Einziger nicht eingeweiht war, aber schließlich erklärte er sich bereit, mit der Frau mitzugehen. Sie wollte ihn an der Hand nehmen, doch er gab ihr deutlich zu verstehen, dass er so einen Quatsch nicht mitmachte, und vergrub stattdessen die Hände tief in den Hosentaschen. Immer wieder drehte er den Kopf, um zu sehen, ob seine Mutter nicht doch zu der Bank zurückgekommen war, aber als er eine Minute später das Sanitätszelt betrat, sah er sie dort auf einem Bett liegen, und neben ihr stand ein Arzt.
»Noah!« Sie richtete sich sofort auf und versuchte zu lächeln, was ihr aber nicht besonders gut gelang. Ihr Gesicht war sehr bleich, fast grau, und in dem Zelt roch es unangenehm. Der Geruch erinnerte Noah an den Geruch in seinem Zimmer, als Charlie Charlton bei ihm übernachtete und zu viel Schokolade aß und zu viel Limo trank und in der Nacht den ganzen Boden vollkotzte. »Entschuldige«, sagte seine Mama matt. »Aber du musst dir keine Sorgen machen. Mir ist nur ein bisschen komisch, mehr nicht. Das kommt bestimmt von der vielen Zuckerwatte.«
»Aber du hast doch gar keine Zuckerwatte gegessen!« Noah starrte sie an und blieb ein Stück von ihr entfernt.
Sie fuhren am Abend nicht mit dem Zug zurück, was sehr schade war, weil Noah Züge so mochte. Stattdessen blieben sie noch drei Stunden in dem Zelt, bis Noahs Vater mit dem Auto kam und sie nach Hause brachte.
Während der Fahrt waren sie alle ganz still, vor allem Noah.
Kapitel 16 Noah und der alte Mann
»Aber wenn sie keine Zuckerwatte gegessen hat –«, sagte der alte Mann und legte das Spielzeug, das er gerade schnitzte, halb fertig auf den Tisch, nahm dann die leeren Nachtischteller und ging langsam zum Spülbecken, wo er den Wasserhahn aufdrehte und zwei Geschirrtücher in die Spüle warf, damit diese die Arbeit tun konnten, »– warum ging es ihr dann so schlecht?«
Noah starrte wieder auf den Tisch und folgte mit dem Finger einer Vertiefung im Holz, die vermutlich von einem außer Kontrolle geratenen Schnitzeisen stammte. Er sagte nichts und hielt stur den Blick gesenkt, in der Hoffnung, dass der alte Mann ihm nicht noch mehr Fragen dieser Art stellte.
»Du möchtest mir nicht antworten?«, fragte der alte Mann schließlich mit leiser Stimme. Noah schaute ihn an, schluckte heftig und schüttelte dann den Kopf.
»Ich will nicht unhöflich sein«, sagte Noah und merkte selbst, dass er viel energischer klang, als er wollte. »Aber nachdem ich jetzt von zu Hause weggelaufen bin, will ich am liebsten gar nicht mehr an meine Mama und meinen Papa denken. Und auch nicht mehr über sie reden.«
»Das finde ich wirklich eigenartig.« Der alte Mann musterte ihn verständnislos. »Erst verteidigt dich deine Mutter gegen den Hausdetektiv, der dir etwas Falsches vorwirft. Dann verwandelt sie ein Schwimmbad in einen Strand, dann holt sie dich aus der Schule und geht mit dir auf den Rummelplatz. Und du willst nicht über sie reden? Wenn ich so eine Mutter gehabt hätte … tja, ich hatte natürlich nie eine Mutter, sondern nur meinen Poppa«, fügte er traurig hinzu. »Aber trotzdem – ich verstehe nicht, warum du nicht bei ihr sein möchtest.«
Bevor er antwortete, überlegte Noah lange. »Es ist nicht so, dass ich nicht bei ihr sein möchte.« Allmählich wusste er nicht mehr, was er sagen sollte. »Ach, ich kann es nicht erklären, das ist alles viel zu schwierig. Die Sache ist die: Sie hat mir etwas versprochen. Und ich glaube, dass sie ihr Versprechen nicht hält. Und ich möchte nicht da sein, wenn das passiert.«
»Du
glaubst
, dass sie ihr Versprechen nicht hält?«
»Ja.«
»Und was hat sie versprochen?«
Noah schüttelte heftig den Kopf, um zu zeigen, dass er es nicht sagen wollte.
»Das tut mir leid, mit deiner Mutter«, sagte der alte Mann mit einem Seufzer. »Aber ich denke, dass wir alle manchmal etwas versprechen, was wir nicht halten können.«
»Ich wette, Sie haben das nie getan«, sagte Noah.
»Ach, da liegst du aber völlig falsch. Du hättest hören sollen,
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