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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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aufwachte, als ihn ein paar Stunden später eine Hand an der Schulter rüttelte.
    Im Zimmer war es noch dunkel. Deshalb wusste er, dass es noch nicht Morgen sein konnte, aber er merkte, dass jemand auf seiner Bettkante saß und leise atmete. Erschrocken schoss er hoch und knipste die Nachttischlampe an.
    »Mama!«, rief er. Er schaffte es kaum, die Augen aufzumachen, weil sie sich erst an das helle Licht gewöhnen mussten. »Du bist wieder da.«
    »Ich habe dir doch gesagt, dass ich nach Hause komme, stimmt’s?«, flüsterte sie leise. »Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein, aber ich konnte nicht länger wegbleiben. Weg von dir, meine ich. Ich weiß nicht, was dein Vater sagt, wenn er aufwacht und sieht, dass ich … dass ich nach Hause gekommen bin.«
    »Ich hab dich so vermisst«, sagte Noah und fiel ihr um den Hals. Aber obwohl er sich so freute, dass seine Mutter wieder da war, war er sehr müde und wäre am liebsten gleich wieder eingeschlafen. Er hätte lieber erst am Morgen mit ihr geredet, nach dem Aufstehen, wenn er angezogen war. »Wie viel Uhr ist es überhaupt?«
    »Es ist mitten in der Nacht«, sagte seine Mutter, beugte sich vor und küsste ihn auf die Haare. »Ich wollte dir nur gern was zeigen.«
    Noah schaute auf seinen Wecker und zog eine Grimasse.
    »Ich weiß, ich weiß«, flüsterte seine Mutter, bevor er etwas sagen konnte. »Aber glaub mir, es lohnt sich.«
    »Können wir es nicht später machen?«, fragte er.
    »Nein, es muss jetzt gleich sein«, beharrte sie. »Komm schon, Noah. Bitte. Steh einfach auf. Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen.«
    Noah nickte und kletterte aus dem Bett. Sie gingen hinunter und zur Haustür hinaus und ganz hinten in den Garten, wo man zwischen den Bäumen hindurch bis zum Horizont sehen konnte. Das Gras unter Noahs Füßen war ganz feucht, aber das fand er irgendwie angenehm, und er drehte die Füße auf dem Boden hin und her, damit jede einzelne Zehe etwas abbekam.
    Seine Mama nahm ihn an der Hand. »Jetzt pass auf«, sagte sie und zeigte zum Horizont. Er starrte in die dunkle Ferne, ohne zu wissen, worauf er aufpassen sollte. Er schluckte und gähnte. Dann gähnte er noch einmal. Er hätte gern gewusst, wann er endlich wieder ins Bett durfte. Da hörte er rechts von sich ein Rascheln, und ein dunkelbrauner Fuchs mit leuchtend weißen Streifen auf dem Rücken erschien, schaute ihn an, hielt ganz lang seinen Blick fest und verschwand dann im hohen Gras der Wiese, die das Haus vom Wald trennte.
    »Worauf soll ich eigentlich achten?«, fragte Noah und schaute seine Mutter an. Aber sie schüttelte nur den Kopf und deutete wieder zum fernen Horizont, nachdem sie einen Blick auf die Uhr geworfen hatte.
    »Schau einfach in diese Richtung«, sagte sie und umklammerte seine Hand noch fester. »Gleich kommt’s.«
    Er kniff die Augen zusammen. Was meinte sie nur?
    »Gleich geht’s los!«, verkündete seine Mutter. »Du musst immer den Horizont im Auge behalten. Schau nicht weg, Noah. Das haut dich aus den Socken.«
    »Aber ich habe gar keine Socken an«, sagte Noah und blickte hinunter auf seine nackten Füße, die nass und grün waren.
    Und dann passierte etwas ganz Ungewöhnliches. Die Dunkelheit, die den Waldboden bedeckte, wurde plötzlich von strahlend hellem Sonnenlicht vertrieben. Das Licht strömte golden durch die taunassen Grashalme und die Zweige der Bäume und holte innerhalb weniger Augenblicke die ganze Welt aus der Nacht in den Tag.
    »Man hat nicht richtig gelebt, ehe man nicht gesehen hat, wie im Wald die Dämmerung anbricht«, sagte seine Mama und zog ihn an sich. »Mein Vater hat mich hier rausgebracht, um das zu sehen, kurz bevor … kurz bevor er uns verlassen hat. Und ich habe es nie vergessen. Es ist eine meiner glücklichsten Erinnerungen mit ihm. Deshalb wollte ich, dass wir es auch zusammen sehen, nur du und ich, Noah. Was sagst du? War das nicht wunderschön?«
    »Ja, es war okay«, sagte er achselzuckend. »Muss ich jetzt noch länger hier draußen bleiben?«, fragte er dann. »Ich friere.«
    Seine Mama schaute ihn ein bisschen traurig an und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Du musst nicht noch länger hier draußen bleiben. Du kannst wieder ins Bett gehen, wenn du möchtest. Ich wollte nur, dass wir das ein Mal zusammen erleben, sonst nichts. Und wenn du später irgendwann den Anbruch der Dämmerung siehst, dann denkst du vielleicht an mich.«
    Noah nickte und rannte ins Haus, die Treppe hinauf, und warf seinen

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