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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Bademantel auf den Boden. Aber bevor er wieder unter die Bettdecke kroch, schaute er noch einmal kurz aus dem Fenster. Zu seiner Überraschung stand seine Mutter immer noch an derselben Stelle wie vorher, das heißt, sie war halb auf den Holzzaun geklettert, wie auf eine Leiter, so dass sie sich ein Stück über dem Boden befand. Sie war der einzige Mensch weit und breit, vor dem riesigen Wald – der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der schon wach war, dachte Noah –, und sie hatte die Arme weit ausgebreitet, um den strahlenden Morgen zu begrüßen, den Kopf im Nacken, damit sie die warmen Sonnenstrahlen auf dem Gesicht spüren konnte. Es war ein sehr ungewöhnliches Bild.
    Dann ging Noah schnell ins Bett, aber obwohl er so müde war, konnte er nicht mehr einschlafen. Erst als er hörte, dass seine Mutter zur Haustür hereinkam und langsam die Treppe hinaufging, fühlte er sich wieder geborgen.
    Und dann hörte er sie schreien, es war ein schriller Schmerzensschrei. Noah richtete sich im Bett auf und blieb wie erstarrt sitzen, und er hörte, wie sich die Tür des Elternschlafzimmers öffnete und sein Vater die Stufen hinunterrannte und ihren Namen rief.

Kapitel 20 Noah und der alte Mann
    »Ich glaube, allmählich begreife ich«, sagte der alte Mann. »Das Leben kann sehr einsam sein, wenn man die Menschen, die man liebt, verlässt. Man muss sich seiner Sache sehr sicher sein. Denn irgendwann kommt der Punkt, da ist es zu spät, um nach Hause zu gehen.«
    »Aber Sie sind doch nach Hause zurückgegangen«, sagte Noah. »Sie haben Ihr Versprechen gehalten. Nachdem Sie den Brief bekommen haben, in dem stand, dass Ihr Vater krank ist. Dann sind Sie heimgelaufen.«
    »Ganz so einfach ist es nicht«, sagte der alte Mann traurig und nahm sich ein neues Stück Holz, das er lange betrachtete, bis er anfing, im unteren Teil zwei Beine zu schnitzen. »Ich bin noch nicht fertig mit meiner Geschichte. Aber schau mal auf die Uhr – denkst du nicht, es wäre vielleicht eine gute Idee, doch nicht wegzulaufen? Du kannst immer noch zu Hause sein, bevor es dunkel wird. Wenn du das möchtest.«
    »Ich glaube, ich bekomme viel zu viel Ärger, wenn ich jetzt nach Hause gehe«, sagte Noah, aber er machte ein Gesicht, als würde er seine ganze Aktion doch ein wenig bedauern. »Ich halte mich lieber an meinen ursprünglichen Plan.«
    »Deine Eltern würden dir bestimmt verzeihen, davon bin ich überzeugt«, sagte der alte Mann. »Sie wären einfach nur froh, dich wiederzuhaben.«
    Noah überlegte. Obwohl er erst seit ein paar Stunden von zu Hause weg war, vermisste er alles schon ein bisschen. Aber sobald er an zu Hause dachte, fiel ihm auch gleich die andere Seite ein: Wenn er zurückging, musste er auch dem, was als Nächstes kommen würde, ins Auge sehen, und er war sich nicht sicher, ob er das konnte.
    »Aber warum nicht?«, fragte der alte Mann. Seine Frage überraschte Noah, denn er wusste genau, dass er den Gedanken nicht laut ausgesprochen hatte. »Was kommt als Nächstes?«
    »Etwas Schlimmes«, antwortete er.
    »Was meinst du mit ›etwas Schlimmes‹?«
    »Hatten Sie wirklich nie eine Mutter?«, fragte Noah den alten Mann.
    »Nein«, erwiderte dieser traurig. »Nur einen Vater. Wie oft habe ich mir eine Mutter gewünscht. Mütter sind meistens nette Menschen, habe ich immer gedacht. Jedenfalls bis heute.«
    »Warum?«, fragte Noah. »Was hat sich heute geändert?«
    »Na ja«, sagte der alte Mann mit einem Lachen. »Du erzählst mir diese wunderbaren Geschichten von deiner Mutter, wie lieb sie zu dir war, wie fürsorglich – aber du bist trotzdem weggelaufen. Ich kann daraus nur schließen, dass sie nicht so nett ist, wie du sie beschreibst.«
    »Aber so meine ich es nicht!«, rief Noah ungeduldig, stand auf und ging ans Fenster. »Kommen Sie mal«, sagte er, weil er sah, dass vor dem Haus irgendetwas los war. »Da draußen sind lauter Leute.« Unten hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Die Dorfbewohner schauten alle zum Spielzeugladen und machten sich Notizen. Der Dackel, der Noah morgens so sehr geholfen hatte, war auch dabei. Er schien sich immer mehr in irgendetwas hineinzusteigern, während er mit einem mittelalten Mann diskutierte, der ein knallrotes Gesicht hatte und sich für alles zuständig zu fühlen schien – er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum und ermahnte die anderen, still zu sein, damit er nachdenken konnte. Der Esel aß eine Banane, die eine Frau schon geschält in die Luft hielt,

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