Der Junge mit dem Herz aus Holz
probierte eine seiner Zigarren, kotzte aber sofort auf meine Stiefel. »Doch jetzt sollte ich wirklich lieber nach Hause laufen, weil ich ein Versprechen gegeben habe.«
Auf dem Heimweg kam ich durch Italien, wo der Papst mich aufforderte, an einem Nachmittag tausend Runden um den Petersplatz zu laufen. Als sich immer mehr Leute versammelten und mir zujubelten, merkte ich, dass es mir ganz gut gefiel, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen, und ich wollte nicht, dass es aufhörte.
»Komm mit in meine Privatgemächer«, sagte der Papst anschließend und legte mir den Arm um die Schultern. »Iss ein bisschen Tiramisu mit mir.«
»Geht leider nicht, Eure Heiligkeit«, entgegnete ich und schüttelte den Kopf. »Ich muss jetzt wirklich nach Hause. Ich habe ein Versprechen gegeben.«
Und unterwegs kam ich durch Spanien und lief in Pamplona mit den Stieren um die Wette, dann rannte ich nordwärts nach Barcelona zum St.-Georgs-Tag, wo ich an sämtlichen Bücher- und Blumenständen in der Stadt bediente, indem ich blitzschnell zwischen ihnen hin und her lief, sobald irgendwo ein Kunde auftauchte, und die ganze Stadt kam zum Stillstand, wenn ich durch die Straßen sauste.
Als ich mich meiner Heimat näherte, wurde ich zur Abwechslung etwas müde und beschloss, mich ein paar Tage in West Cork auszuruhen. Ich erklärte mich bereit, beim großen Insel-Wettbewerb in Skibbereen als Schiedsrichter zu fungieren. Dieses Fest findet einmal im Jahr statt, und alle irischen Männer, Frauen und Kinder kommen für vierundzwanzig Stunden in die Stadt, um Wettrennen zu machen, Widerstandslieder zu singen und um über die Wirtschaftskrise zu sprechen. Ich wurde gebeten, eine Rede zu halten, aber ich sagte den Leuten, ich würde ihnen lieber zeigen, wie schnell ich laufen kann. Da warf eine junge Frau aus der Menge einen Schlüsselbund auf die Bühne.
»Ich glaube, ich habe zu Hause vergessen, den Wasserhahn abzudrehen«, rief sie und nannte eine Adresse in Donegal, was gut dreihundert Meilen entfernt war. »Könntest du mal schnell hinlaufen und sehen, was los ist, Junge?«
»Der Wasserhahn war abgestellt«, teilte ich ihr ein paar Minuten später mit und warf ihr den Schlüsselbund wieder zu und außerdem noch eine dicke rote Wolljacke. »Aber ich glaube, demnächst brauchst du die Jacke hier. Am Horizont sieht’s düster aus, als würde es bald regnen.«
»Du machst deiner Mutter und deinem Vater alle Ehre!«, rief die junge Frau, und die Leute jubelten.
»Vielen Dank«, sagte ich. »Aber ich habe keine Mutter. Nur einen Vater. Und ich muss jetzt wirklich ganz schnell zu ihm zurück. Ich habe ein Versprechen gegeben.«
Ich nahm ein Schiff nach London, wo ich zwei Tage an einem Literaturfest teilnahm. Ich rannte bei den Autorenlesungen so blitzschnell rein und wieder raus, dass der Luftzug die Seiten der Bücher umblätterte, wodurch die Autoren beide Hände frei hatten, um etwas zu trinken und herumzufuchteln.
Ich bemühte mich wirklich, in unser Dorf zurückzukehren, aber ich schaffte es einfach nicht. Immer gab es irgendwo eine Menschenmenge, die mich sehen wollte, oder ich bekam eine Einladung, die ich gern annehmen wollte. Noch ein Festival, noch ein Wettkampf. Der Gedanke an meinen Vater ließ mich trotzdem nicht los. Ich versuchte zwar, mein Versprechen, wieder nach Hause zu kommen, irgendwie wegzuschieben, aber ich wusste natürlich, dass die Jahre vergingen, dass meine Schulzeit längst vorüber war und dass mein Vater nicht jünger wurde.
Erst als ich in St. Petersburg landete, spitzte sich die Lage zu. Zur Unterhaltung des Zaren und seiner Frau, der Herrscherin von Russland, lief ich wie ein Hamster in einem Riesenrad, ohne Pause und ohne müde zu werden. Doch dann traf ein Brief für mich ein, also hörte ich auf zu laufen und verließ das Hamsterrad. Ich las den Brief immer wieder, mit Tränen in den Augen. Ich fragte einen jungen kaiserlichen Leibwächter, wie es in St. Petersburg mit Zügen aussehe, und erfuhr, dass sie sehr langsam waren und sehr selten fuhren und dass es in den Waggons extrem kalt war.
Abb. 10 Der geöffnete BRIEF
»Aber ich muss nach Hause«, sagte ich. »Mein Vater liegt im Sterben.«
»Das tut mir leid«, murmelte der junge Leibwächter und zuckte ratlos die Achseln. Doch er schien es ehrlich zu bedauern, dass er mir nicht helfen konnte. »Aber es gibt gar keine Züge.«
»Dann muss ich laufen«, sagte ich. »Und ich verspreche, dass ich mich diesmal von nichts und niemandem ablenken
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