Der Junge
längst vorbei. Der Park ist leer, abgesehen von ihnen. Sie müssen ihr Spiel abbrechen – es ist zu dunkel, um den Ball zu sehen. Also fechten sie Ringkämpfe aus, als wären sie wieder kleine Kinder, rollen im Gras herum, kitzeln sich, lachen und kichern. Er steht auf, holt tief Luft. Eine Woge des Glücks durchströmt ihn, er denkt: »Nie bin ich glücklicher im Leben gewesen. Ich würde gern immer mit Greenberg und Goldstein Zusammensein.«
Sie trennen sich. Es stimmt. Er würde gern immer so leben, mit seinem Fahrrad durch die breiten und leeren Straßen von Worcester fahren, in der Dämmerung eines Sommertages, wenn man alle anderen Kinder hereingerufen hat und nur er noch unterwegs ist, wie ein König.
Fünf
Daß er katholisch ist, gehört nur zu seinem Schulleben. Daß er die Russen mehr mag als die Amerikaner, ist ein Geheimnis, so düster, daß er es keinem anvertrauen kann. Russenfreundlichkeit ist eine ernste Sache. Sie kann dazu führen, daß man geächtet wird.
In seinem Schrank hat er in einem Karton das Heft mit den Zeichnungen, die er 1947 auf dem Höhepunkt seiner Begeisterung für die Russen angefertigt hat. Die Zeichnungen, mit weichem Bleistift ausgeführt und mit Wachsstiften ausgemalt, zeigen russische Flugzeuge, die amerikanische vom Himmel schießen, russische Schiffe, die amerikanische versenken. Obwohl die Leidenschaft jenes Jahres, als im Radio plötzlich eine Haßkampagne gegen die Russen begann und jeder Stellung beziehen mußte, abgeflaut ist, hält er fest an seiner heimlichen Treue – Treue den Russen gegenüber, doch noch mehr Treue sich selbst gegenüber, wie er war, als er diese Zeichnungen anfertigte.
Hier in Worcester gibt es keinen, der weiß, daß er die Russen mag. In Kapstadt hatte es Freund Nicky gegeben, seinen Gefährten bei Kriegsspielen mit Bleisoldaten und einer Kanone mit Sprungfeder, die Streichhölzer verschoß; doch als er mitbekam, wie gefährlich seine Bündnistreue war, was auf dem Spiel stand, ließ er sich erst von Nicky schwören, daß er nichts verraten würde, und dann, um ganz sicherzugehen, erzählte er ihm, er hätte die Seiten gewechselt und wäre jetzt für die Amerikaner. In Worcester gibt es außer ihm keinen Menschen, der für die Russen ist. Seine Treue zum Roten Stern macht ihn zum absoluten Außenseiter.
Woher stammt nur diese Vernarrtheit, die sogar ihm seltsam vorkommt? Seine Mutter heißt Vera – Vera, mit dem eisigen großen ein Pfeil, der nach unten schießt. Vera sei ein russischer Name, hat sie ihm einmal erzählt. Als man ihm die Russen und die Amerikaner zum ersten Mal als Gegner vorsetzte, zwischen denen er zu wählen hatte (»Für wen bist du, für Smuts oder Malan? Für wen bist du, für Superman oder Captain Marvel? Für wen bist du, für die Russen oder die Amerikaner?«), entschied er sich für die Russen, wie er sich für die Römer entschieden hatte – weil er den Buchstaben r mag, besonders das große R, den stärksten von allen Buchstaben.
Er entschied sich 1947 für die Russen, als alle anderen sich für die Amerikaner entschieden; und da er sich für sie entschieden hatte, verschlang er alles, was es über sie zu lesen gab. Sein Vater hatte eine dreibändige Geschichte des Zweiten Weltkrieges gekauft. Er liebte diese Bücher und studierte sie, studierte die Fotos von russischen Soldaten in weißen Skiuniformen, von russischen Soldaten mit Maschinenpistolen, die gebückt durch die Ruinen von Stalingrad huschten, von russischen Panzerkommandanten, die durch ihre Ferngläser starrten. (Der russische T-34 war der beste Panzer der Welt, besser als der amerikanische Sherman, besser sogar als der deutsche Tiger.) Immer wieder kam er zu einem Gemälde zurück, das einen russischen Piloten zeigte, der mit seinem Sturzkampfbomber über einer brennenden, vernichteten deutschen Panzerkolonne abdrehte. Er bekannte sich zu allem Russischen. Er bekannte sich zum strengen, doch väterlichen Feldmarschall Stalin, dem größten und weitsichtigsten Strategen des Krieges; er bekannte sich zum Barsoi, dem russischen Windhund, dem schnellsten aller Hunde. Er wußte alles Wissenswerte über Rußland: seine Größe in Quadratmeilen, seine Kohleförderung und Stahlproduktion in Tonnen, die Länge seiner großen Flüsse: Wolga, Dnjepr, Jenissei, Ob.
Dann wurde ihm klar, durch die Mißbilligung der Eltern, durch die Verwunderung der Freunde, durch das, was sie ihren Eltern über ihn erzählten – die Parteinahme für die
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