Der Junge
Russen war kein Spiel mehr, sie war nicht erlaubt.
Anscheinend läuft immer etwas schief. Was er will, was er mag, muß früher oder später zum Geheimnis werden. Allmählich hält er sich für eine dieser Spinnen, die in einem Loch im Boden mit einer Falltür leben. Immer muß die Spinne in ihr Loch zurückhuschen, die Falltür hinter sich schließen, die Welt aussperren, sich verstecken.
In Worcester hält er seine russische Vergangenheit geheim, versteckt das verwerfliche Heft mit den Zeichnungen, auf denen feindliche Kampfflugzeuge Rauchfahnen hinter sich herziehend ins Meer stürzen und Kriegsschiffe mit dem Bug voran in den Wellen versinken. Das Malen ersetzt er durch Phantasie-Cricketspiele. Er benutzt ein Strandschlagholz und einen Tennisball. Die Herausforderung besteht darin, den Ball so lange wie möglich in der Luft zu halten. Stundenlang umkreist er den Eßzimmertisch und schlägt den Ball in die Luft. Alle Vasen und Nippes sind fortgeräumt; jedesmal wenn der Ball gegen die Decke prallt, rieselt feiner roter Staub herab.
Er spielt ganze Spiele, elf Schlagmänner pro Mannschaft schlagen jeweils zweimal. Jeder Treffer zählt als ein Lauf. Wenn seine Aufmerksamkeit nachläßt und er den Ball verfehlt, scheidet ein Schlagmann aus, und er vermerkt den Spielstand auf der Anschreibekarte. Es ergeben sich gewaltige Summen: fünfhundert Läufe, sechshundert Läufe. Einmal erzielt England tausend Läufe, was noch keine wirkliche Mannschaft je geschafft hat. Manchmal gewinnt England, manchmal Südafrika; seltener Australien oder Neuseeland.
In Rußland und Amerika spielt man kein Cricket. Die Amerikaner spielen Baseball; die Russen scheinen gar nichts zu spielen, vielleicht weil es dort immer schneit.
Er weiß nicht, was die Russen so machen, wenn sie nicht gerade Krieg führen. Von seinen privaten Cricketspielen erzählt er den Freunden nichts, die sind nur für zu Hause. Als sie noch neu in Worcester waren, ist einmal ein Junge aus seiner Klasse zur offenen Haustür hereingekommen und hat ihn unter einem Stuhl auf dem Rücken liegend entdeckt. »Was machst du da?« hat er gefragt. »Ich denke«, hat er ohne zu überlegen gesagt: »Ich denke gern.« Bald wußten alle in seiner Klasse davon: Der Neue war verrückt, er war nicht normal. Aus diesem Fehler hat er gelernt, vorsichtiger zu sein. Vorsichtig zu sein, heißt zum Beispiel, eher weniger als mehr zu erzählen.
Er spielt auch richtiges Cricket mit jedem, der dazu bereit ist. Doch richtiges Cricket auf dem freien Platz im Zentrum von Reunion Park ist unerträglich langsam; der Ball wird ständig vom Schlagmann verfehlt, vom Torwächter verfehlt, verschwindet irgendwo. Er haßt es, nach verschwundenen Bällen zu suchen. Er haßt auch das Spiel als Fänger auf steinigem Boden, wo man sich beim Hinfallen jedesmal Hände und Knie aufschrammt. Er will nur Schlagmann oder Werfer sein, das ist alles.
Er beschwatzt den Bruder, obwohl der erst sechs ist, verspricht ihm, daß er mit seinen Spielsachen spielen darf, wenn er für ihn im Hinterhof den Ball bowlt. Eine Weile bowlt der Bruder, dann verliert er die Lust, es langweilt ihn, und er huscht schutzsuchend ins Haus. Dann versucht er, seiner Mutter das Bowlen beizubringen, doch sie stellt sich ungeschickt an. Während er allmählich verzweifelt, schüttet sie sich aus vor Lachen über ihre Unbeholfenheit. Deshalb erlaubt er ihr, den Ball einfach zu werfen. Doch am Ende ist das Schauspiel zu peinlich, zu leicht von der Straße aus zu beobachten: eine Mutter, die mit ihrem Sohn Cricket spielt.
Er halbiert eine Marmeladenbüchse und nagelt die untere Hälfte an einen 60 Zentimeter langen hölzernen Arm. Er befestigt den Arm an einer Achse, die er durch die Wände einer mit Ziegelsteinen beschwerten Transportkiste steckt. Ein Stück Fahrradschlauch zieht den Arm nach vorn, und ein Seil, das durch einen Haken in der Kiste läuft, zieht ihn nach hinten. Er legt einen Ball in die Blechbüchse, geht zehn Schritte zurück, zieht an dem Seil, bis der Gummischlauch gespannt ist, klemmt das Seil unter seine Ferse, nimmt die Schlagposition ein und läßt das Seil fahren. Manchmal fliegt der Ball in den Himmel, manchmal ihm direkt an den Kopf; doch hin und wieder fliegt er in seine Reichweite, und er kann ihn schlagen. Das befriedigt ihn – er ist Werfer und Schlagmann zugleich, er hat es geschafft, nichts ist unmöglich.
Eines Tages fordert er Greenberg und Goldstein in einer vertrauensseligen
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