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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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Stimmung auf, ihre frühesten Erinnerungen hervorzuholen. Greenberg sträubt sich – das ist ein Spiel, auf das er sich nicht einlassen will. Goldstein bietet eine lange und witzlose Geschichte, wie er an den Strand mitgenommen wird, eine Geschichte, der er kaum zuhört. Denn er hat sich das Spiel natürlich ausgedacht, damit er seine erste Erinnerung erzählen kann.
      Er beugt sich aus dem Fenster ihrer Wohnung in Johannesburg. Die Dämmerung bricht herein. Unten auf der Straße kommt ein Auto angerast. Ein Hund, ein kleiner gefleckter Hund, läuft vor das Auto, das den Hund überfährt – die Räder fahren dem Hund mitten über den Leib. Mit gelähmten Hinterpfoten schleppt sich das Tier fort und jault vor Schmerz. Ganz bestimmt wird es sterben; doch in dem Moment zieht man ihn schnell vom Fenster weg.
      Das ist eine großartige erste Erinnerung, sie stellt alles in den Schatten, was der arme Goldstein ausgraben kann. Aber ist sie auch wahr? Warum hat er sich aus dem Fenster gelehnt und auf eine leere Straße geschaut? Hat er wirklich gesehen, wie das Auto den Hund überfahren hat, oder hat er nur einen Hund jaulen hören und ist zum Fenster gerannt? Hat er vielleicht nur gesehen, wie ein Hund seine Hinterpfoten nachgeschleppt hat, und der Rest der Geschichte mit Auto und Fahrer ist von ihm frei erfunden?
      Da gibt es noch eine frühe Erinnerung, eine, der er mehr traut, die er aber nie erzählen würde, ganz bestimmt nicht Greenberg und Goldstein, die sie in der Schule ausposaunen und ihn damit lächerlich machen würden.
      Er sitzt neben seiner Mutter in einem Bus. Es muß kalt sein, denn er hat rote Wollhosen an und eine Wollmütze mit einer Bommel auf. Der Motor des Busses quält sich ab; sie fahren den wilden und einsamen Swartberg-Paß hinauf.
      In der Hand hat er ein Bonbonpapier. Er hält das Papier aus dem Fenster, das einen Spalt offensteht. Es flattert und zittert im Wind.
      »Soll ich es loslassen?« fragt er die Mutter.
      Sie nickt. Er läßt es los.
      Das Stück Papier fliegt hoch in den Himmel. Dort unten ist nichts als der schreckliche Abgrund des Passes, umgeben von kalten Berggipfeln. Er verrenkt sich den Hals und erhascht nach hinten hinaus einen letzten Blick auf das Papier, das immer noch tapfer fliegt.
      »Was wird aus ihm?« fragt er die Mutter; doch sie versteht nicht.
      Das ist die andere frühe Erinnerung, die geheime. Er denkt immerzu an das Stück Papier, allein in dieser unendlichen Weite, das er im Stich gelassen hat, als er es nicht hätte tun dürfen. Eines Tages muß er wieder zum Swartberg-Paß und es finden und retten. Das ist seine Pflicht: Er darf nicht sterben, bis er es getan hat.
      Seine Mutter verachtet Männer, die »zwei linke Hände« haben, und zu denen zählt sie auch seinen Vater, doch ebenso ihre eigenen Brüder, und vor allem ihren ältesten Bruder Roland, der die Farm hätte behalten können, wenn er hart genug gearbeitet hätte, um die Schulden abzuzahlen, es aber nicht getan hat. Von den vielen Onkeln väterlicherseits (er zählt acht blutsverwandte und weitere acht angeheiratete) bewundert sie am meisten Joubert Olivier, der auf Skipperskloof einen Generator installiert hat und sich sogar selbst die Grundlagen der Zahnheilkunde beigebracht hat. (Bei einem seiner Besuche auf der Farm bekommt er Zahnschmerzen. Onkel Joubert setzt ihn auf einen Stuhl unter einen Baum und bohrt ohne Betäubung das Loch und füllt es mit Guttapercha. Noch nie in seinem Leben hat er so gelitten.) Wenn etwas kaputtgeht – Teller, Nippes, Spielzeug –, repariert das die Mutter selbst: mit Strick, mit Leim. Die Dinge, die sie zusammenbindet, werden locker, weil sie keine Ahnung von Knoten hat. Die Dinge, die sie klebt, fallen auseinander; sie schiebt es auf den Leim.
      Die Küchenschubfächer sind voller krummer Nägel, Strickenden, Bälle aus Stanniolpapier, alter Briefmarken.
      »Warum hebst du das auf?« fragt er. »Man kann ja nie wissen«, antwortet sie.
      Wenn sie schlechte Laune hat, verunglimpft sie alle Bücherweisheit. Die Kinder sollte man in die Berufsschule schicken, sagt sie, und dann arbeiten lassen. Studieren ist sinnlos. Am besten lernt man Möbeltischler oder Zimmermann, wie man Holz bearbeitet. Von der Landwirtschaft ist sie enttäuscht; es gibt jetzt, wo die Farmer plötzlich reich geworden sind, zu viel Faulheit, zu viel Protzerei unter ihnen.
      Denn der Wollpreis ist kräftig gestiegen. Laut Rundfunkmeldungen zahlen die Japaner für

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