Der Junge
Schuhcreme auf. Miss Oosthuizen versieht den Heftrand neben der Schuhputzgeschichte mit einem dicken blauen Ausrufezeichen. Es ist ihm äußerst peinlich, er betet, daß sie ihn ja nicht auffordert, seinen Aufsatz der Klasse vorzulesen. An jenem Abend paßt er genau auf, als die Mutter seine Schuhe putzt, damit er es nicht noch einmal falsch macht.
Er läßt die Mutter seine Schuhe putzen, wie er sie alles für sich tun läßt, was sie will. Das einzige, was er ihr nicht mehr gestattet, ist, daß sie ins Bad kommt, wenn er sich ausgezogen hat.
Er weiß, daß er lügt, weiß, daß er schlecht ist, aber er ändert sich nicht. Er ändert sich nicht, weil er sich nicht ändern will. Daß er sich von anderen Jungen unterscheidet, hat vielleicht etwas mit seiner Mutter zu tun und mit seiner unnatürlichen Familie, aber auch mit seinen Lügen. Wenn er aufhören würde zu lügen, müßte er seine Schuhe putzen und höflich sein und alles tun, was normale Jungen tun. Dann wäre er nicht mehr er selbst. Wenn er nicht mehr er selbst wäre, was hätte das Leben dann noch für einen Sinn?
Er lügt, und er ist hartherzig – er belügt die Welt im allgemeinen und ist seiner Mutter gegenüber hartherzig. Es tut seiner Mutter weh, merkt er, daß er sich immer mehr von ihr entfernt. Trotzdem verhärtet er sein Herz und will sich nicht erweichen lassen. Seine einzige Entschuldigung ist, daß er auch zu sich selbst ohne Mitleid ist. Er lügt, aber er belügt sich nicht selbst.
»Wann wirst du sterben?« fragt er sie eines Tages herausfordernd, erstaunt über seine eigene Kühnheit.
»Ich werde nicht sterben«, antwortet sie. Sie spricht in munterem Ton, aber ihre Munterkeit klingt gekünstelt.
»Und wenn du nun Krebs bekommst?«
»Krebs bekommt man nur durch einen Schlag vor die Brust. Ich bekomme keinen Krebs. Ich lebe ewig. Ich werde nicht sterben.«
Er weiß, warum sie das sagt. Sie sagt das ihm und seinem Bruder zuliebe, damit sie sich keine Sorgen machen. Es ist dumm, so etwas zu sagen, aber er ist ihr dankbar dafür.
Er kann sich nicht vorstellen, daß sie stirbt. Sie ist der Fixpunkt in seinem Leben. Sie ist der Fels, auf dem er steht. Ohne sie wäre er nichts.
Sie paßt gut auf, daß ihre Brust keinen Stoß abbekommt. Seine allererste Erinnerung, noch früher als die an den Hund, früher als die an das Bonbonpapier, ist die Erinnerung an ihre weiße Brust. Er vermutet, daß er ihr als Baby wehgetan hat, mit den kleinen Fäusten gegen ihre Brust geschlagen hat, sonst würde sie ihm jetzt die Brust nicht so entschieden verweigern, sie, die ihm sonst nichts verweigert.
Krebs ist die große Angst ihres Lebens. Was ihn angeht, so hat man ihm beigebracht, auf Schmerzen in der Seite zu achten, jeden Stich als Anzeichen von Blinddarmentzündung zu deuten. Wird ihn der Krankenwagen ins Krankenhaus bringen können, bevor der Blinddarm platzt? Wird er aus der Narkose jemals wieder erwachen? Ihm gefällt der Gedanke nicht, daß ihn ein fremder Arzt aufschneidet. Andererseits wäre es ganz nett, hinterher eine Narbe zu haben, die man herumzeigen könnte. Wenn in der Schulpause Erdnüsse und Rosinen verteilt werden, bläst er die papierdünnen roten Häute der Erdnüsse fort, die im Ruf stehen, sich im Blinddarm festzusetzen und dort Entzündungen hervorzurufen.
Er geht ganz in seinen Sammlungen auf. Er sammelt Briefmarken. Er sammelt Bleisoldaten. Er sammelt Bilder – Bilder von australischen Cricketspielern, Bilder von englischen Fußballern, Bilder von Autos aus aller Welt. Um an die Bilder zu kommen, muß er Packungen mit Zigaretten aus Nougat und Zuckerguß kaufen, die rosabemalte Enden haben. Seine Hosentaschen sind immer voller schmelzender, klebriger Zigaretten, die er zu essen vergessen hat.
Viele Stunden bringt er mit seinem Meccano-Baukasten zu und zeigt so seiner Mutter, daß auch er geschickte Hände hat.
Er baut mit paarweise verbundenen Scheiben eine Windmühle, deren Flügel so schnell angekurbelt werden können, daß ein Luftzug durchs Zimmer streicht.
Er läuft um den Hof, wirft dabei einen Cricketball in die Luft und fängt ihn, ohne aus dem Tritt zu kommen. Was ist die wahre Flugbahn des Balles: Steigt er gerade in die Luft und fällt gerade herunter, wie er es sieht, oder beschreibt er im Aufsteigen und Fallen einen Kreis, wie es ein stillstehender Zuschauer sehen würde? Wenn er mit seiner Mutter über solche Dinge redet, sieht er die Verzweiflung in ihren
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