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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge
Autoren: J. M. Coetzee
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gelöst: Er hat seine eigenen Freunde, die er sich selbst ausgesucht hat, er fährt mit der Rad fort, ohne zu sagen, wohin oder wann er zurückkommen wird. Seine Cousins und sein Bruder haben keine Freunde. Er denkt, daß sie blaß und furchtsam sind, immer zu Hause unter den Augen ihrer starken Mütter. Der Vater nennt die drei verschwisterten Mütter die drei Hexen. »Sudel, sudel, treib und trudel«, sagt er, Macbeth zitierend. Amüsiert, boshaft gibt er ihm recht.
      Wenn seine Mutter besonders bittere Gedanken über ihr Leben in Reunion Park bewegen, sagt sie, sie hätte doch lieber Bob Breech heiraten sollen. Er nimmt sie nicht ernst.
      Gleichzeitig traut er seinen Ohren nicht. Wenn sie Bob Breech geheiratet hätte, wo wäre er dann? Wer wäre er dann? Wäre er dann der Sohn von Bob Breech? Wäre dann der Sohn von Bob Breech er?
      Von der Existenz eines echten Bob Breech ist nur ein Zeugnis geblieben. Er findet es zufällig in einem der Fotoalben seiner Mutter: ein unscharfes Foto von zwei jungen Männern in langen weißen Hosen und dunklen Blazern, die an einem Strand stehen, einer den Arm um die Schultern des anderen gelegt, und in die Sonne blinzeln. Einen davon kennt er: Juans Vater. Wer ist der andere Mann? fragt er seine Mutter, ohne sich was dabei zu denken. Bob Breech, antwortet sie. Wo ist er jetzt? Er ist tot, sagt sie.
      Angestrengt starrt er in das Gesicht des toten Bob Breech.
      Von sich selbst kann er darin nichts entdecken.
      Er stellt keine weiteren Fragen. Doch indem er den Schwestern aufmerksam zuhört und zwei und zwei zusammenzählt, erfährt er, daß Bob Breech aus gesundheitlichen Gründen nach Südafrika gekommen war; daß er nach ein oder zwei Jahren nach England zurückgekehrt ist; daß er dort gestorben ist. Er starb an Tuberkulose, aber ein gebrochenes Herz, so wird angedeutet, hat vielleicht sein Ende beschleunigt – die dunkelhaarige, dunkeläugige junge Lehrerin mit dem mißtrauischen Blick, die er an der Bucht von Plettenberg kennengelernt hatte und die ihn nicht heiraten wollte, hatte ihm das Herz gebrochen.
      Gern blättert er in den Fotoalben. Ganz egal wie undeutlich das Foto ist, er kann seine Mutter immer in der Gruppe ausmachen – sie ist die mit dem scheuen, abweisenden Blick, in dem er eine weibliche Version seines eigenen Blicks erkennt. Er verfolgt ihr Leben in den Alben durch die zwanziger und die dreißiger Jahre: zuerst die Mannschaftsbilder (Hockey, Tennis), dann die Bilder von ihrer Europareise: Schottland, Norwegen, die Schweiz, Deutschland; Edinburgh, die Fjorde, die Alpen, Bingen am Rhein. Unter ihren Andenken befindet sich ein Drehbleistift aus Bingen, mit einem winzigen Guckloch in der Seite, durch das man eine Burg auf einem Felsen sieht.
      Manchmal blättern sie gemeinsam in den Alben, er und sie.
      Sie seufzt und meint, wie gern würde sie Schottland wiedersehen, die Heide, die Glockenblumen. Er denkt: Sie hatte ein Leben vor meiner Geburt. Das freut ihn für sie, denn jetzt hat sie kein Leben mehr.
      Ihr Europa ist ein ganz anderes Europa als das aus dem Fotoalbum seines Vaters, in dem Südafrikaner in Khakiuniformen sich vor den Pyramiden in Ägypten aufgebaut haben oder vor den Ruinen italienischer Städte. Aber bei diesem Album verweilt er weniger bei den Fotos als bei den eingelegten Flugblättern, Flugblättern, die von deutschen Flugzeugen über den alliierten Stellungen abgeworfen wurden.
      Eins erklärt den Soldaten, wie sie Fieber bekommen können (indem sie Seife essen); ein anderes zeigt eine tolle Frau, die auf den Knien eines fetten, Champagner trinkenden Juden mit Hakennase sitzt. »Weißt du, wo deine Frau heute abend ist?« fragt die Unterschrift. Und dann gibt es den blauen Porzellanadler, den sein Vater in den Ruinen eines Hauses in Neapel gefunden und im Tornister mit nach Hause gebracht hat, den Reichsadler, der jetzt auf dem Schreibtisch im Wohnzimmer steht.
      Er ist unheimlich stolz auf den Kriegsdienst seines Vaters. Er ist überrascht – und befriedigt –, als er feststellt, wie wenige der Väter seiner Freunde im Krieg gekämpft haben. Wieso sein Vater nur Obergefreiter geworden ist, weiß er nicht genau; er macht ihn stillschweigend zum Unteroffizier, wenn er seinen Freunden von den Abenteuern seines Vaters erzählt. Doch er hält das Foto in Ehren, aufgenommen in einem Studio in Kairo, auf dem sein hübscher Vater zu sehen ist, wie er ein Gewehr angelegt hat und mit einem zugekniffenen Auge zielt, sein
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